Bensheim, Gesundheit-Beauty-Wellness

Kinder mit ADHS werden oft ausgegrenzt. Foto: fotolia
28. Februar 2020 

„ADHS“, das „böse Wort“ …

Auswirkungen auf schulischen Alltag – was können LehrerInnen tun?

BENSHEIM, Februar 2020 (awa), Nicht zuletzt durch zahllose, polarisierende Beiträge in den Medien sind in den letzten 25 Jahren über ADHS diverse, hartnäckig sich haltende Mythen entstanden. Weil diese Mythen dem Kinder- und Jugendpsychiater die Arbeit in der Praxis wirklich erheblich erschweren, bezeichne ich den Begriff „ADHS“ etwas sarkastisch als ein „böses Wort“, da es falsch und unzureichend informierte Eltern in Angst und Schrecken versetzt.

Warum ist es denn so schlimm, ADHS zu haben? Man sollte es so sehen: wenn man nicht gut sieht, geht man zum Augenarzt. Bei Bedarf verschreibt dieser ein Hilfsmittel, nämlich eine Brille. Damit kann man die Sehschwäche ausgleichen.

Menschen mit Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS) brauchen auch Unterstützung und Hilfen – ok, es ist ein bisschen komplexer, aber es ist machbar, wenn man sich Hilfe holt.

In diesem Artikel soll es um Auswirkungen von ADHS im schulischen Alltag gehen sowie um Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten.

Nicht selten kommt es vor, dass Lehrer eines von ADHS betroffenen Kindes/Jugendlichen bei uns in der Praxis anrufen und fragen, was sie denn tun sollen bzw. ob wir „Tipps“ geben können, wie mit dem/der betroffenen SchülerIn umzugehen sei. Die Frage ist verständlich, denn in Schulen gibt es ein großes Informationsdefizit, was ADHS ist, wie ADHS diagnostiziert wird, welche Behandlung medizinisch wirksam und sinnvoll ist und wie man als Lehrer/Lehrerin mit von ADHS betroffenen Kindern umgehen kann.

Leider kann ich dieses Wissen weder in einem Telefonat von 5 bis 10 Minuten noch in einem persönlichen Gespräch von 30 bis 60 Minuten vermitteln. Das löst bei den Anrufern manchmal Frust aus, was ich gut verstehen kann. Nach langem Suchen habe ich zwei Internetseiten und ein Buch gefunden, in denen gutes, wertvolles und alltagsrelevantes Wissen verständlich dargeboten wird:
www.adhs.info
https://adhs.aok.de/zum-adhs- elterntrainer/
• Frölich, Döpfner, Banaschewski: ADHS in Schule und Unterricht, Verlag W. Kohlhammer (2014)

Weil bei diesem Krankheitsbild der Teufel im Detail im Alltag steckt und weil die Alltagsprobleme bei jedem Kind, seiner Familie und seiner Schule individuell anders aussehen, ist es unverzichtbar, dass betroffene Eltern, Kinder, Jugendliche und Lehrer sich erstmal ein gewisses Grundwissen aneignen, damit wir effizient zusammen arbeiten können und damit ich als Kinder- und Jugendpsychiater überhaupt helfen kann.

Wichtig: alles, was Sie zu den Begriffen ADHS, Konzentrationsprobleme usw. „gegoogelt“ haben, vergessen Sie am besten schnell wieder. Sie erhalten beim „Googeln“ zu diesem Thema leider keine ausreichenden oder häufig sogar falsche Informationen.

Zurück zu den Auswirkungen von ADHS im schulischen Alltag.

In dem Buch „ADHS in Schule und Unterricht“ bekommen Lehrer/Lehrerinnen konkrete Anleitung, wie sie den Unterricht mit von ADHS betroffenen SchülerInnen strukturieren können. Im Folgenden möchte ich in stark verkürzter Form und ohne Einleitung ganz kurze Einblicke in die wichtigsten Kapitel geben (teilweise zitiert, teilweise verkürzt oder ergänzt). Wer sich einen tieferen Einblick verschaffen möchte, kann im Buch nachlesen.

Proaktives Lehrerverhalten bei Verhaltens- und Lernproblemen

Schüler mit ADHS fragen den Lehrer nicht von sich aus, ob er helfen kann. Die Schüler mit ADHS haben größere Schwierigkeiten als andere Schüler, komplexere Fragestellungen in adäquater Zeit zu erfassen.

Dazu kommen Versagensängste. Schüler mit ADHS können diese Schwächen jedoch nicht so einfach offen zugeben und zeigen, sondern versuchen sie zu kompensieren, z.B. durch verweigerndes oder störendes Verhalten. Dieses schwierige Verhalten kann bei Lehrern/Lehrerinnen verständlicherweise zu Fehlinterpretationen führen.

Durch proaktive Hilfestellungen kann der Lehrer dem Schüler entgegen kommen: z.B. indem er nach Zuteilen einer Aufgabe zu dem betroffenen Kind hingeht, nachfragt, ob die Aufgabe verstanden wurde, diese evtl. nochmals wiederholt und erklärt und so dem Schüler besonders beim Beginn der Aufgabenstellung hilft, ins Arbeiten zu kommen. Voraussetzung hierfür ist natürlich ein transparenter Umgang damit, dass dieser Schüler ein Aufmerksamkeitsproblem hat.
Durch ein Repertoire angemessener Strategien im Umgang mit dem jeweils betroffenen Schüler (das individuell erarbeitet werden sollte) kann zu starke Emotionalisierung vermieden werden, so dass das Verhältnis zwischen Lehrer / Lehrerin und Schüler nicht unnötig belastet wird.
Eine wirksame Planung proaktiver Strategien funktioniert nur auf dem Boden einer exakten, situationsbezogenen Analyse des Verhaltens des Schülers. Hierbei empfiehlt sich das unterstützende Einschalten eines Beratungslehrers oder eines spezifisch geschulten Kollegen, der die eigenen Eindrücke durch Unterrichtsbeobachtungen ergänzen kann; etc.

Präventive Unterrichtsmethoden bei ADHS

Die besten Lernerfolge erzielen Schüler mit ADHS, wenn der Unterricht für sie speziell sorgsam vorstrukturiert wurde. Dazu gehört, dem betroffenen Schüler separat und zusätzlich genau zu erklären, worin das Ziel der Unterrichtsstunde besteht und welche Fertigkeiten und welches Wissen vom Schüler für eine erfolgreiche Unterrichtsteilnahme verlangt werden. Dies kann durch folgende Instruktionen unterstützt werden: Überblick über die Unterrichtsstunde; Rückblick auf die voran gegangene Stunde; Definition der Lernziele für die Unterrichtsstunde, zusätzlich individuell für den von ADHS betroffenen Schüler; Formulierung von individuellen Verhaltenszielen für den betroffenen Schüler; Besprechung der benötigten Unterrichtsmaterialien; Besprechung zusätzlicher Hilfsmittel; Hilfe beim Korrigieren von Fehlern und Gewähren von zusätzlicher Arbeitszeit im Rahmen eines Nachteilsausgleichs; etc.

Interventionsmaßnahmen bei problematischem, störendem Schülerverhalten

Für Schüler mit ADHS stellt die Befolgung von Regeln eine besondere Schwierigkeit dar. Faustregel: 8 Jahre alte Kinder können ca. 60 bis 80 % der Regeln problemlos befolgen. Falls ein Schüler weniger als 60 % der Regeln befolgt, kann von einem interventionsbedürftigen Problemverhalten ausgegangen werden. Die Unterscheidung, ob störendes Verhalten durch die ADHS-Kernsymptomatik bedingt ist (Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Überaktivität) oder ob es sich um gewolltes, oppositionelles Verhalten handelt, ist schwierig. U.a. sollte erwünschtes Zielverhalten für den betroffenen Schüler individuell präzise formuliert werden; wenn ein Auftrag gegeben wurde, sollte die Lehrperson noch warten, bis der betroffene Schüler mit dem Ausführen des Auftrages begonnen hat; bei korrekter Durchführung sollte sofort ein präzises Lob erfolgen. Auch und gerade hier steckt der Teufel besonders im Detail der Durchführung, weitere Erläuterungen (enthalten im o.g. Buch) würden den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Aufmerksamkeitsstörungen und Teilleistungsstörungen wie Lese- und Rechtschreibprobleme, Rechenprobleme, Probleme mit dem Schriftbild

Bis zu 30% der Kinder und Jugendlichen mit ADHS haben zusätzlich eine LRS (Lese- und Rechtschreibstörung) oder Dyskalkulie (Rechenstörung). Bei Problemen mit Lesen, Schreiben und / oder Rechnen liegt aber nicht zwingend eine LRS oder Dyskalkulie vor!

Denn: Die Kernsymptome der ADHS (besonders Unaufmerksamkeit und Impulsivität) können sich in verschiedenen fachlichen Bereichen leistungsmindernd auswirken: z.B. Flüchtigkeit und Impulsivität beim Erfassen von Textaufgaben in Mathematik; Schwächen im Kurzzeitgedächtnis bei Diktaten oder kaum leserliches Schriftbild als Folge der Impulskontrollschwäche. Es bedarf einer profunden kinder- und jugendpsychiatrischen Fachdiagnostik, um im Einzelfall zu entscheiden, ob „nur ADHS“, „nur eine Teilleistungsstörung“ oder beides vorliegt.

Als mögliche Hilfestellungen im Rahmen eines Nachteilsausgleiches bezogen auf ADHS werden exemplarisch kurz genannt (ausführlicher im Buch):
Hilfestellung beim Lesen: zu lesende Texte können in einer vergrößerten Kopie vorgelegt werden, möglichst nur ein Abschnitt pro Seite, wodurch der impulsive Arbeitsstil gebremst werden kann; etc.

Hilfestellung bei der Rechtschreibung: Diktate oder Texte, die abgeschrieben wurden, sollten immer durch den Schüler nochmals auf Fehler kontrolliert werden, Zeile für Zeile, am besten wird der Rest des Textes mit einem Blatt abgedeckt. Hierfür wird der Schüler zusätzliche Zeit benötigen (Vorsicht: funktioniert nur bei ADHS, nicht jedoch bei LRS!); etc.

Rechnen: Schwierigkeiten bei Subtraktion und Multiplikation sind in hohem Maße abhängig von einem funktionstüchtigen Arbeitsspeicher / Kurzzeitgedächtnis. Auch das Erlesen und Verstehen von Textaufgaben bereiten Probleme. Bei Aufgaben, die Zwischenschritte erfordern, passieren häufig Leichtsinnsfehler bzw. die Zwischenlösungen werden wieder vergessen, während weiter gerechnet wird. Die Zwischenschritte müssen daher unbedingt auf einem Extrablatt aufgeschrieben werden, wozu der betroffene Schüler immer wieder aufgefordert werden muss; etc.

Kooperation mit dem Elternhaus

Bei Schülern mit ADHS ist ein dauerhafter Austausch zwischen Lehrern und Eltern unverzichtbar. Man muss sich auch von der Vorstellung verabschieden, dass nach einigen Wochen intensivierten Austausches wieder zur „Tagesordnung“ zurück gekehrt werden kann, da ADHS ein chronisches, wissenschaftlich fundiertes Störungsbild ist, welches sich nach etablierten nationalen und internationalen Kriterien fachärztlich diagnostisch abklären und behandeln lässt.

Pädagogische Aufträge dürfen weder von der Schule in das Elternhaus noch in umgekehrter Richtung verschoben werden. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus gehört zu den essentiellen Bestandteilen pädagogischer Interventionen bei Schülern mit einer ADHS. In der Praxis kommt es immer noch häufig vor, dass die Kooperation zwischen Elternhaus und Schule erhebliche Defizite aufweist. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Leider kann dadurch das Kind unnötig zum Spielball subjektiver Betrachtungen seitens der unterrichtenden Lehrer/Lehrerinnen und / oder der Eltern werden.

Die Zusammenarbeit sollte sich auf einige wesentliche Punkte konzentrieren. Es ist nicht möglich, zu viele Probleme gleichzeitig bearbeiten zu wollen. Tages- oder Wochenrückmeldebögen bzw. regelmäßiger Email- Kontakt zwischen Eltern und Lehrern sind zeitsparende, effiziente Kommunikations- und Feedbackmöglichkeiten; etc.

Ganz klar muss auch betont werden, dass Eltern eines Kindes mit einer Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung für dieses Kind viel mehr Zeit und Kraft brauchen als für Geschwister, die nicht von ADHS betroffen sind. Das Spektrum dessen, was Eltern tun, ist riesig: manche Eltern arbeiten mit ihrem Kind zuhause den kompletten Schulstoff nach, was täglich 4 bis 6 Stunden in Anspruch nehmen mag. Andere Eltern können, z.B. aus beruflichen Gründen, nur sehr wenig Zeit für Kontrolle von Hausaufgaben und regelmäßiges Üben aufwenden.

ADHS ist häufig (betroffen sind ca. 5% aller Kinder und Jugendlichen) und geht mit erheblichen Entwicklungsrisiken und schwersten

Langzeitbeeinträchtigungen einher. Betroffen sind nicht nur die Kinder, die die Störung haben, sondern die gesamten Familien dieser Kinder, denn: ADHS macht den Alltag zuhause und in der Schule extrem anstrengend! Bei Nicht-Behandlung steigen über Jahre hinweg emotionale Belastung und Frustration, und die betroffenen Kinder entwickeln nicht selten sogar Suizidgedanken in Folge ihrer permanenten Misserfolge im schulischen und sozialen Bereich.
Die Schule sollte sich darüber bewusst werden, dass sie einen großen Beitrag zu einer gelungenen oder misslungenen psychosozialen und sozio-emotionalen Entwicklung mit entsprechenden Auswirkungen auf die Langzeitprognose leisten kann.

Autor:
Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie
– Homöopathie –
Nibelungenstr. 26, 64625 Bensheim
Tel. 06251 – 66478, Fax – 66278
www.praxis-wacker.de
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