Bensheim, Gesundheit-Beauty-Wellness

Durch Reizüberflutung im Abseits. Foto: fotolia
16. August 2018 

„ADHS? Das glaube ich nicht…“

Die sehr komplexen Folgen einer einfachen Konzentrationsstörung

BENSHEIM, August 2018 (wa), Konzentrationsstörungen bei Kindern haben im Alltag häufig sehr komplexe und vielschichtige Folgen, die von Eltern, Lehrern und von den betroffenen Kindern oder Jugendlichen selbst nicht mit einer „Konzentrationsstörung“ in Verbindung gebracht werden.

Es handelt sich bei diesen Folgen beispielsweise um (altersmäßig sortiert nach Vorschulalter/ Schulalter/ Adoleszenz; Quelle: modifiziert aus: Dr. med. Oehler: Pharmakologische Behandlung von Komorbiditäten der ADHS, „forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie“, Heft 2/2018):

– Probleme in Gruppen: das Kind kommt bei anderen Kindern nicht gut an, da die anderen Kinder genervt sind, es „eckt an“, wird nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen, wird ausgegrenzt
– feinmotorische Schwierigkeiten
– Verzögerungen der Blasen- und Mastdarmkontrolle (Einnässen, Einkoten)
– schwaches Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein
– Lernschwierigkeiten, Probleme mit Lesen und Schreiben/Schriftbild
– Verhaltensprobleme, aggressives Verhalten
– soziale Ungeschicklichkeit
– impulsives Verhalten
– hohe Unfallhäufigkeit
– komplexe Lernprobleme
– Essstörung mit Übergewicht
– Substanzmissbrauch, Drogenprobleme
– ungewollte Schwangerschaft
– Stimmungslabilität und depressive Verstimmungen
– Suizidversuche
– Demotivation und Wegbleiben von der Schule
– schwierige berufliche Integration, Schwierigkeiten in der Berufsausbildung
-hohe Unfallhäufigkeit beim Führen eines KFZ (Mofa, Moped, Motorrad, PKW; landwirtschaftliche Fahrzeuge)

Die im Diagnosenschlüssel als „einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ bezeichnete ADHS (Aufmerksamkeits- Defizit- Hyperaktivitäts- Störung) ist mit ca. 5 % betroffenen Kindern und Jugendlichen die häufigste neuropsychiatrische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Im Erwachsenenalter gibt es noch etwa 3 % Betroffene.

Ursache für die Konzentrationsstörung ist letztlich ein relativer Mangel am Botenstoff Dopamin im Gehirn. Es handelt sich um eine Entwicklungsverzögerung, und die Gehirnreifung ist erst im Alter von Anfang bis Mitte 20 abgeschlossen. Bei der Entwicklung bis zum jungen Erwachsenenalter kommt es darauf an, dass der/die Jugendliche etwas findet, wofür er/sie „brennt“, sich also richtig interessiert, und dieses Thema idealerweise zum Beruf macht. Betont werden muss in diesem Zusammenhang Folgendes: wenn ich mich für etwas interessiere, kann ich mich immer konzentrieren. Dann stellt unser Gehirn nämlich genügend Dopamin zur Verfügung; so ist das „Belohnungssytem“ in unserem Gehirn eben strukturiert. Bei Themen, die ich langweilig finde, bricht mir aber die Konzentration weg. „Rutscht“ also ein junger Mensch in die Ausbildung zu einem Beruf, den er eigentlich langweilig findet, so wird er als Erwachsener sehr wahrscheinlich weiterhin Probleme mit der Konzentration haben. Macht er/sie eine Ausbildung oder ein Studium in einem Bereich, für den er/sie „brennt“, so wird als junger Erwachsener genügend Dopamin und damit Konzentration zur Verfügung stehen. Es ist nicht so einfach, wie man vielleicht vermuten könnte, ein solches Thema zu finden, wofür man „brennt“. Ich empfehle daher, ab der 7. oder 8. Klasse möglichst viele Praktika in verschiedensten Branchen und Betrieben zu machen und möglichst früh Ferienjobs bzw. diverse kleine Jobs anzunehmen, um viele praktische Erfahrungen zu sammeln.

An jedem Kiosk gibt es Dinge, die uns auf die Schnelle einen kleinen „Kick“ verschaffen. Jeder „Kick“ ist mit einem Dopaminanstieg verbunden, z.B. wenn wir ein Stück Schokolade essen. Nicht umsonst sagt man, Schokolade sei „Nervennahrung“. Der Dopaminspiegel steigt nach einem Stück Schokolade natürlich nur gering und vorübergehend an, und bald benötigt man den nächsten „Kick“, z.B. (lassen Sie uns an den Kiosk denken): weitere Schokolade, sonstige Süßigkeiten, aufputschende Energy- drinks und koffeinhaltige Getränke, Boulevardpresse, sowie Zigaretten und Alkohol. Letzteres spielt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine besonders gesundheitsgefährdende Rolle. Schwierig ist, dass es wohl kaum Jugendliche gibt, denen im Lauf ihrer Entwicklung nicht irgendwann oder irgendwo einmal Cannabis angeboten wird. Cannabis ist eine richtige, echte Droge. Das Prinzip einer Droge ist – vereinfacht gesagt – dass es in bestimmten Bereichen des Gehirns zum schussartigen Dopamin- Anstieg kommt; dieses Hochschießen des Dopaminspiegels ist mit einem „angenehmen Gefühl“ verbunden, und das macht die berauschende Wirkung einer Droge aus.

Fragt man Jugendliche, die täglich Cannabis konsumieren, weshalb sie das tun, so ist die Antwort stets dieselbe: „na, ich werde dadurch ruhiger, und ich kann mich besser konzentrieren“. Das aber bedeutet: der Konsum von Cannabis ist der (natürlich etwas unbeholfene und auf jeden Fall schädliche) Versuch einer Selbstbehandlung und Selbstmedikation! Hätte man diese Jugendlichen rechtzeitig mit einem geeigneten Medikament, das für einen sanften Dopaminanstieg sorgt (dabei aber keinen „Kick“ verursacht), medizinisch korrekt und kontrolliert behandelt, so würden sie vermutlich weniger Cannabis und / oder andere Drogen konsumieren, und das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung wäre definitiv geringer.

Wie kommt es nun dazu, dass ein auf den ersten Blick einfaches Problem wie eine Konzentrationsstörung zu derart vielschichtigen Problemen führen kann, wie sie in der oben stehenden Liste aufgeführt sind? Die Zusammenhänge sind komplex, und es würde den Rahmen eines kurzen Artikels sprengen, sie im Einzelnen darzustellen. Exemplarisch möchte ich aber doch die wichtigsten Zusammenhänge erläutern.

Konzentrationsstörung und Impulsivität hängen eng miteinander zusammen. Es ist normal, dass wir andauernd impulshaft auftauchende Gedanken haben: dass wir dies oder jenes denken, sagen oder tun könnten. Man sagt so schön: „Die Gedanken sind frei“. Denken darf man alles, nur sagen und tun darf man nicht alles.

Und darin liegt die Schwierigkeit für die betroffenen Kinder. Sie haben beispielsweise den Impuls: „Ich könnte doch jetzt diesem Mädchen mal die Stelzen wegtreten“. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit und Konzentration eines von ADHS betroffenen Kindes „lückenhaft“ oder „löchrig“ ist, gelingt es diesem Kind nicht, seinen Impuls („Stelzen wegtreten“) zu kontrollieren. Verbessert man aber die Aufmerksamkeit und Konzentration durch ein geeignetes Medikament, so schiebt sich zwischen Impuls- Gedanke und Impuls- Ausführung eine Art „Filter“, welcher dem Kind ermöglicht, nochmal kurz innezuhalten und an die Konsequenzen seines Verhaltens zu denken, etwa so: „wenn ich dem Mädchen die Stelzen wegtrete, ist sie sauer auf mich, evtl. könnte sie sich verletzen, und ich muss dann wieder zum Direktor… also mache ich es lieber nicht“. Der Impuls wird kontrolliert, es kommt nicht zum schwierigen Verhalten, und es gibt letztlich weniger Misserfolgserlebnisse. Das Kind eckt weniger an und wird dadurch sozial besser akzeptiert.

Ein weiterer Zusammenhang zwischen Konzentration und Stress im Alltag ist folgender: wenn man sich vormittags in der Schule besser konzentrieren kann, bekommt man mehr mit. Man kann sich nachmittags, wenn man die Hausaufgaben macht, besser erinnern, die Hausaufgaben sind schneller fertig, und man hat somit mehr Zeit zum Spielen. Wenn man Vokabeln oder anderen Stoff für eine Arbeit lernt, geht es ebenfalls schneller, man kann sich bei der Klassenarbeit noch daran erinnern, schreibt bessere Noten und bekommt von Lehrern und Eltern mehr Lob. So entsteht aus einer Negativspirale im Lauf weniger Wochen eine Positivspirale.

Kinder, die sich in einer Negativspirale befinden, tragen immer mehr emotional belastende Misserfolgserlebnisse mit sich herum, sie werden früher oder später depressiv, bedrückt, gereizt, stimmungslabil. Diese negative Entwicklung führt nicht selten dazu, dass das Kind / der oder die Jugendliche irgendwann lebensmüde Gedanken entwickelt. Leider wissen die beteiligten Eltern und Lehrer in der Regel nicht, dass es sich hierbei um die Folgen einer nicht erkannten Konzentrationsstörung handeln könnte. Dieses Fachwissen hat aber der Kinder- und Jugendpsychiater.

Durch soziale und leistungsbezogene Misserfolge in der Schule entwickeln viele Kinder Ängste vor der Schule und wollen irgendwann nicht mehr zur Schule gehen. Sie ziehen sich zurück, der Medienkonsum steigt. Wenn der/die Jugendliche dann mehrere Wochen nicht in der Schule war bzw. wenn die Fehlzeiten sich immer mehr erhöhen, wird schließlich ein Klinikaufenthalt unausweichlich.
In unserer Praxis arbeiten wir mit einem Schul- Coach zusammen, der Hausbesuche macht und der die Jugendlichen in ihrem gewohnten häuslichen Umfeld motiviert. Der Schul- Coach kann vorbeugend zur Vermeidung eines Klinikaufenthalts eingesetzt werden, und er kann nach einem Klinikaufenthalt die Rückfallgefahr verringern. Hierüber werden wir gesondert im Rahmen eines weiteren Artikels berichten.

Selbstverständlich erfolgt vor der Behandlung einer Konzentrationsstörung eine ausführliche fachärztliche, kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik. Die Behandlung besteht nicht nur in der Gabe von Medikamenten und / oder der Vermittlung eines Schul- Coaches, sondern es werden natürlich im Rahmen einer therapeutischen Gesamt- Strategie therapeutische und pädagogische Gespräche geführt; die Eltern werden beraten.

Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und –psychotherapie
– Homöopathie –
Nibelungenstr. 26, 64625 Bensheim
Tel. 06251 – 66478, Fax – 66278
www.praxis-wacker.de