Bensheim, Gesundheit-Beauty-Wellness

Durch Reizüberflutung im Abseits. Foto: fotolia
16. Dezember 2017 

ADHS und ADS – (k)ein einfaches, aber ein sehr kompliziertes Thema

Leben mit Reizüberflutung

BENSHEIM, Dezember 2017 (awa), Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität betrifft in Deutschland ca. 5 % aller Kinder und Jugendlichen. Die Diagnose kann etwa ab dem 6. / 7. Lebensjahr gestellt werden (bei kleineren Kindern sind Unaufmerksamkeit und motorische Unruhe noch normal). Etwa 60 % der betroffenen Kinder und Jugendlichen behält die Symp-tomatik ganz oder teilweise bis zum Erwachsenenalter.

ADHS / ADS ist eine Erkrankung, die bei den betroffenen Kindern /Jugendlichen und deren Familien mit viel Leid verbunden ist. Die Diagnose „ADHS“ oder „ADS“ löst bei den betroffenen Eltern meist Entsetzen aus, fast so, als würde ich sagen: „Ihr Kind hat Krebs, ist stigmatisiert und für unsere Gesellschaft untragbar“. Ein Teil der Eltern beginnt dann zu diskutieren und diese Diagnose in Frage zu stellen. Ich höre auch immer wieder: „Diese Diagnose gibt es doch gar nicht!“

Es gibt sie aber doch. Allerdings heißt die medizinisch korrekte Diagnose gar nicht „ADHS“, sondern anders: „Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“, im medizinischen Diagnosenschlüssel ICD-10 mit dem Code F90.0 versehen. Die Kernsymptomatik liest sich äußerst banal und einfach: Unaufmerksamkeit – Überaktivität – Impulsivität.

Impulsivität bedeutet: ich habe einen Gedanken und setze ihn sofort – ohne vorher zu denken – in die Tat um, d.h. ich sage etwas (Freches, Flapsiges, Unverschämtes) oder ich mache etwas (z.B. das Mäppchen meines Nachbarn vom Tisch fegen), das dann großen Stress für mich selbst und für andere verursacht. Anders ausgedrückt: es läuft nach dem Motto: „erst handeln, dann denken“. Die Schwierigkeit ist, dass diese drei einfachen Symptome (Unaufmerksamkeit, Überaktivität, Impulsivität) im Alltag in unendlich vielfältigen Formen auftreten und daher vom Nicht-Fachmann häufig nicht erkannt werden. Ich sage daher immer: „Der Teufel steckt im Detail des Alltags“. Ein weiteres Problem ist, dass es nicht so einfache und übersichtliche Diagnosemethoden gibt wie bei somatischen Erkrankungen, z.B. bei Diabetes mellitus. Wer zuckerkrank ist, hat erhöhte Blutzuckerwerte. Das leuchtet ein.

Der diagnostische Weg zur Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung ist komplexer, vielschichtiger. An den Ergebnissen einer Intelligenztestung lässt sich indirekt ablesen, ob die Konzentration gehalten werden kann oder ob sie immer wieder „einbricht“.

Die Person, die den Test durchführt (in unserer Praxis die Sozialpädagogin Frau Müllemann- Schmidt) beobachtet während der Testung genau das Verhalten des Kindes / Jugendlichen und dokumentiert es in unserer elektronischen Patientenakte. Man erkennt während der Testung sehr gut, wie lange die Konzentration gehalten wird und wann das Kind eine Pause braucht und wie es mit angebotenen Motivationshilfen umgeht. Ein wichtiger Punkt ist die motorische Unruhe, die bei manchen Kindern von Anfang an erkennbar ist, bei manchen Kindern aber erst nach einiger Zeit auftritt oder bei manchen Kindern auch gar nicht.

Wenn wir im Erstgespräch über „Konzentration“ sprechen, sagen viele Eltern: „Wenn er mit Lego spielt oder zockt bzw. wenn ihn etwas interessiert, kann er sich stundenlang konzentrieren!“ Und damit denkt der Laie, dass dies der Beweis ist, dass keine Konzentrationsstörung vorliegen kann.

Die Realität sieht so aus: wenn man sich für ein Thema interessiert, kann sich jeder konzentrieren, und zwar stundenlang! Die gestörte Konzentration und Aufmerksamkeit macht sich erst bei den Themen bemerkbar, die man nicht so interessant bzw. langweilig findet – und solche Themen gibt es im Alltag zuhause und in der Schule zuhauf. Dem geschulten Beobachter fällt die motorische Unruhe eines Kindes oder Jugendlichen häufig bereits nach wenigen Minuten im Erstgespräch auf.

Dabei spielt es keine Rolle, ob der ganze Körper in Bewegung ist oder nur Arme oder Beine oder ob der Betreffende nur mit der Fingerkuppe des Zeigefingers unablässig am Daumennagel reibt etc. Am schwierigsten haben es die Kinder, die keine motorische Unruhe zeigen: die sogenannten „Träumerchen“.

Die fallen nämlich im Klassenzimmer nicht dadurch auf, dass sie ständig ihren Platz verlassen oder vorlaut dazwischen reden usw. Sie sitzen brav an ihrem Platz, schauen aus dem Fenster und bekommen vom Unterricht nichts mit. Daher können sie sich nie melden und wissen keine Antwort, wenn sie gefragt werden. So erleiden sie im Lauf der Jahre immer mehr Misserfolgserlebnisse und werden immer frustierter und unsicherer.

Auch der „Zappelphilipp“, den man für selbstbewusst hält, weil er eine „große Klappe“ hat und keine Scheu hat, auf andere Menschen zuzugehen und daher immer mitten im Geschehen ist, erleidet ein Misserfolgserlebnis nach dem anderen, da er bei Mitschülern und Lehrern „aneckt“ und irgendwann gemieden und ausgegrenzt wird. Die anderen Kinder wollen nichts mit ihm zu tun haben, weil er so anstrengend ist und ständig „nervt“.

Die Summe der vielen kleinen und großen, jahrelangen Misserfolge im Alltag drückt irgendwann früher oder später auf die Seele: das Kind erscheint dann depressiv und / oder wird im Alltag immer reizbarer und aggressiver, und ein Teufelskreis ist längst im Gange. Das betroffene Kind befindet sich in einer Negativ- Spirale, die nur nach unten führt.

Auch die Umgebung des betroffenen Kindes leidet: Eltern und Geschwister sind angespannt, der Alltag ist unschön und stressig. Die Beziehungen zu den Angehörigen sind zunehmend belastet, und so ist es kein Wunder, dass ohne Behandlung und Hilfe das betroffene Kind / der betroffene Jugendliche irgendwann sogar Suizidgedanken entwickeln kann. Hilfe tut also not.

Zum diagnostischen Prozess gehört neben Gesprächen, Testung und Beobachtung, dass wir Informationen aus unterschiedlichen Lebenssituationen und von unterschiedlichen Beobachtern sammeln: von Lehrern, Eltern und ggf. von weiteren wichtigen Bezugspersonen. Dazu setzen wir einen einfachen zweiseitigen Beobachtungsbogen ein, auf dem das Verhalten beschrieben werden kann, ohne es zu bewerten: Z.B. „Das Kind ist leicht ablenkbar“. Durch Ankreuzen kann man markieren, ob dieser Satz für das beobachtete Kind überhaupt nicht zutrifft, manchmal zutrifft, deutlich zutrifft oder in hohem Maße zutrifft. Wenn uns dieser Bogen von zwei oder drei Personen vorliegt, können wir uns ein gutes Bild vom Verhalten des Kindes in unterschiedlichen Situationen und Kontexten machen.

Klar ist: ADHS und ADS können die Kinderseele in erheblichem Ausmaß beeinträchtigen und belasten. Das wird häufig vergessen, oder man will es nicht wahrhaben und versucht, es wegzudiskutieren. Dem Kind und seiner Entwicklung schadet man dadurch erheblich. Die Beurteilung, ob ein Kind ADHS hat oder nicht, sollte dem Fachmann überlassen bleiben. Leider wurde das Thema in den Medien in den letzten 15 bis 20 Jahren erheblich verzerrt dargestellt. ADHS eignet sich als Thema vorzüglich, um zu polarisieren und „Stimmung“ zu machen. Ich weiß das, da ich mich früher in meiner homöopathischen Praxis auch schon intensiv mit dem Thema ADHS beschäftigt habe. Auch die Homöopathie wird in den Medien immer wieder polarisierend dargestellt, man lobt sie in den Himmel oder veranstaltet eine „Hetzjagd“ auf sie. Bei den meisten Darstellungen in den Medien bleibt der Sachverstand auf der Strecke.

Damit kommen wir zum schwierigsten Aspekt: der Behandlung von ADHS und ADS. Natürlich findet ein wichtiger Teil der Behandlung im explorierenden und therapeutischen Gespräch und im Geben von wichtigen Informationen zum Krankheits- und Störungsbild (Psychoedukation) statt. Bei leicht- und mittelgradigem ADHS ist ein wichtiger Baustein der Behandlung das Konzentrationstraining, das vom Ergotherapeuten durchgeführt wird, z.B. mit Bausteinen des „Marburger Konzentrationstrainings“.

Beim gravierend ausgeprägten ADHS und ADS empfehle ich, eine medikamentöse Probebehandlung für die Dauer von 6 Wochen durchzuführen und danach zu beurteilen, ob das Kind davon profitiert und ob das Medikament vertragen wird. Viele Eltern winken hier entsetzt ab, ohne stichhaltige Gründe für ihre Ablehnung benennen zu können.

Fakt aber ist: Nicht- Behandlung hat gravierende Nebenwirkungen. Es ist nachgewiesen, dass die Unfallgefahr beim nicht behandelten ADHS um das Zehnfache erhöht ist. Die sozialen Nebenwirkungen eines nicht behandelten ADHS oder ADS gehen, wie bereits erwähnt, bis hin zur Suizidalität.

Ich werde auch immer wieder gefragt, ob die medikamentöse Behandlung von ADHS abhängig macht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Jugendliche mit ADHS versuchen im Alltag permanent, sich „Kicks“ zu verschaffen, weil dadurch kurzzeitig der Dopaminspiegel im Gehirn erhöht wird. Dadurch geraten sie aber immer wieder in mehr oder weniger gefährliche Situationen. Wird der Dopaminspiegel durch das passende Medikament reguliert, so muss der Jugendliche nicht mehr unablässig nach „Kicks“ suchen, und der Alltag beruhigt und entstresst sich.

Ich habe schon mehrfach Jugendliche, die Cannabis nehmen, gefragt, warum sie das tun und was es ihnen bringt. Die Antwort war häufig: „Ich nehme es, weil ich dadurch ruhiger werde und klarer denken kann.“ Sie nehmen es also zu „Selbstbehandlung“. Das bedeutet: durch fachgerechte medikamentöse Behandlung reduziert sich sogar die Gefahr, dass Jugendliche ihre Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung mit Drogen bekämpfen, deutlich. Auch im Straßenverkehr können sie sich sicherer bewegen, wenn sie fachgerecht behandelt werden.

Übrigens: ADHS und ADS sind genetisch bedingt, also angeboren. Niemand kann etwas dafür, es gibt also keine „Schuldigen“. Das sollte die Eltern betroffener Kinder entlasten. Oft leiden ein oder beide Elternteile oder ein anderer Verwandter auch unter ADHS oder ADS. ADHS hat nichts zu tun mit Ernährung. Davon konnte ich mich in meiner früheren Zeit in meiner 18-jährigen homöopathischen Praxis ausgiebig überzeugen.

Wichtig ist aber, dass der Alltag für betroffene Kinder und Jugendliche klar strukturiert abläuft. Es müssen in der Familie klare Regeln, Aufgaben und Konsequenzen gelten, und beide Eltern müssen zu 100 % am selben Strang ziehen. Unterschiedliche Erziehungsstile sind für die betroffenen Kinder geradezu „Gift“. Und: für erwünschtes Verhalten müssen die Kinder sofort verbal belohnt werden, nur dann können sie sich einprägen: „wenn ich gut mitmache und wenn alles gut klappt, werde ich gelobt. Also bemühe ich mich, gut mitzumachen!“

Schließlich ist noch zu sagen, dass Kinder, die ADHS oder ADS haben, nicht selten auch noch unter anderen psychischen Belastungen leiden, wie z.B. Ängsten, Lese- und Rechtschreibstörung, depressiven Störungen, Einnässen oder Einkoten, Schlafstörungen, Tics etc.
Überaktives, hypermotorisches Verhalten gibt es nicht nur bei ADHS, sondern es kann auch Symptom einer anderen Störung sein. Die möglichen Vermischungen dieser verschiedenen Störungen und Symptome, die sich zum Teil auch gegenseitig bedingen und verstärken können, sind im Einzelfall äußerst kompliziert und nur für den Fachmann klar erkennbar.

Daher sollte die Diagnostik dem Kinder- und Jugendpsychiater vorbehalten bleiben. Wenn man Zahnschmerzen hat, würde man ja auch nicht auf die Idee kommen, sich den Zahn selbst zu ziehen, sondern zum Zahnarzt gehen. 🙂

Autor:
Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- u. Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Homöopathie
Nibelungenstraße 26
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Telefon: 06251 – 66478
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