Darmstadt

Das darmstadtium ist „ein Gebäude auf der Kante“, denn das riesige Bauwerk steht auf dem tektonisch aktivsten Gebiet Hessens. Foto: Thomas Tritsch
30. Mai 2019 

Bruch durch Europa: Der Brexit ist ein Klacks dagegen

Sanierte Erdbeben-Messstation unter dem darmstadtium ist eine wichtige Datenquelle

DARMSTADT, Mai 2019 (tritsch), Der Oberrheingraben senkt sich. Immerhin um 0,6 Millimeter jedes Jahr. Und das seit über 40 Millionen Jahren. Die Bruchstelle trennt den Graben vom Odenwald, der sich dadurch jährlich um rund 0,8 Millimeter Richtung Norden bewegt. Eine geologisch hoch interessante Gesteinsverwerfung, die direkt durch Darmstadt verläuft.

Als hier 2004 die Baugrube für das Kongresszentrum darmstadtium ausgehoben wurde, machten Geologen eine interessante Entdeckung. Auf der einen Seite bestand der Boden aus hellem Granodiorit, daneben zeigten sich rötliche Ablagerungen aus einem ehemaligen Flussbett. Damit stand fest: Hier verläuft eine europäische Kante mitten durch die Stadt. „Wir stehen auf einem vitalen Erdbebengebiet“, kommentiert Prof. Andreas Henk von der TU Darmstadt die tektonischen Aktivitäten im Untergrund. Eine Erdbebenserie war 2014 so stark, dass die 2007 eingerichtete seismische Messstation im Keller des darmstadtiums erheblich zerstört wurde. Die Erschütterungen hatten Teile der holzverkleideten Wände zum Einsturz gebracht. Für 75.000 Euro wurden die morschen Planken jetzt durch einen stählernen Neubau ersetzt.

Im gleichen Zug haben die Wissenschaftler neue Geräte eingebaut, wie TU-Kanzler Dr. Manfred Efinger bei der Präsentation der neu gestalteten Baugrube unter dem Gebäudekomplex erläuterte. Er spricht von einem Forschungsobjekt von internationaler Bedeutung. In einem schmalen Raum an der Außenwand des Kongresszentrums wurde in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG) eine Station eingerichtet, die eine Messung der relativen Bewegungen am Rand des Oberrheingrabens ermöglicht. Dafür wurden 20 lange Eisenstangen tief ins Gestein getrieben. Sie zeigen die Dynamik des Gesteins in vertikaler und horizontaler Richtung auf den hundertstel Millimeter genau. Ein Kamerasystem erfasst die Bewegungen und schickt sie an spezielle Server zur Auswertung. Der Standort unter dem riesigen Gebäude auf dem tektonisch aktivsten Gebiet Hessens sei ein sehr prominenter, sagt auch Dr. Thomas Schmid. Das Grabensystem reiche vom Mittelmeer bis zur Nordsee und ist bis zu 4000 Meter tief, so der Präsident des HLNUG. Eine so gut zugängliche Störung sei weltweit selten und in Europa einzigartig. Die Kooperation mit dem Kongresszentrum, der TU und der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik biete nun enorme wissenschaftliche Möglichkeiten, um die Verschiebung der Erdmassen genauer analysieren zu können.

Andreas Henk zeigte sich beim Termin vor Ort nicht weniger fasziniert. Durch die Automatisierung im Keller sei eine Datenerhebung in Echtzeit möglich. Neben dem Verschiebungsmessgerät, das durch zwei „Fenster“ in die Erde des Grabensystems einen direkten Blick in die Geologie zulässt, registriert ein Seismometer elektromechanisch feinste Bodenbewegungen unter dem darmstadtium. Damit wird sozusagen die tektonische Großwetterlage der Region erfasst. Ein weiteres Gerät misst die Radonkonzentration in der Raumluft der Messstation: Die Bodengase konzentrieren sich in der ehemaligen Baugrube, während innerhalb des Zentrums, so betont man, die Werte unterhalb des EU-Maximums rangieren. Davon versprechen sich die Wissenschaftler Vorhersagen über künftige Erdbeben. Untersuchungen laufen bereits. Weitere Forschungspartner sollen hinzukommen.

Für Andreas Henk ist das konzertierte Monitoring an einem einzigen Standort ein enormer Gewinn mit hoher gesellschaftlicher Relevanz: „Die Einschätzung des seismischen Gefährdungspotenzials ist eine wichtige Datenbasis, etwa für Bauprojekte“, so der Geologe vom Institut für angewandte Geo-wissenschaften an der TUD. Für Wissenschaftler sei der (nicht besonders einladende) Kellerspalt ein kleines Paradies und ein optimiertes Herzstück der Messungsaktivitäten von Oberflächendeformationen in ganz Europa. Er bestätigt: „Es ist äußerst selten, dass eine solche markante Störung direkt zugänglich ist.“ Der Experte spricht von einem kontinentalen Rift wie aus dem Lehrbuch.

Die Station ist bereits heute in etliche Forschungsprojekte integriert. Weitere werden folgen, so Henk, der die für einen Laien gering erscheinenden Plattenbewegungen relativiert. Einige Zehntel Millimeter im Jahr summierten sich in geologischen Dimensionen zu einer veritablen Größe. Seit Millionen Jahren komme es durch den Druck der Alpen neben der Absenkung des Grabens auch zu einer horizontalen Verschiebung. Bislang haben sich die Gebiete östlich des Grabens gegenüber den westlichen um rund 18 Kilometer nach Norden verschoben. Diese Situation sei relevant, um den Bruchprozess durch ganz Europa nachvollziehen zu können. „Der Brexit ist ein Klacks dagegen“, so Andreas Henk, der betont: „Die Natur hat etwa 20 Millionen Jahre gebraucht. Mal sehen, wie schnell es die Briten schaffen!“

Für die Öffentlichkeit ist die Messstation nicht zugänglich. Im Untergeschoss (Foyer) können Besucher Infos an einem Bildschirm abrufen.