Seeheim-Jugenheim

Rund 120 interessierte Bürger trafen sich im evangelischen Gemeindehaus in Jugenheim und traten gemeinsam mit Klaus Knoche die Führung an. Foto: ewi
04. März 2020 

Die Geschichte hinter den Namen

Leben der Juden in Jugenheim – Stolpersteinführung mit Klaus Knoche

SEEHEIM-JUGENHEIM, März 2020 (erh), Anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags, der an die Befreiung des NS-Vernichtungslager Auschwitz am 27. Januar 1944 erinnert, veranstaltete die Gemeinde Seeheim-Jugenheim in Kooperation mit dem Arbeitskreis Ökumene eine Stolperstein-Führung. In Seeheim-Jugenheim wurden in den Jahren 2013 und 2014 von Gunter Demnig, dem Initiator des europäischen Stolperstein-Kunstprojekts, 40 dieser Gedenktafeln aus Messing verlegt.

Die Mahnmale erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus und befinden sich zumeist an den deren letzten freiwillig gewählten Wohnhäusern. Im Dezember 2019 verlegte Demnig in Memmingen den 75.000. Stolperstein.

Rund 120 Personen waren gemeinsam mit Klaus Knoche vom Arbeitskreis „Wider das Vergessen“ auf den Spuren jüdischen Lebens und Leidens in Jugenheim unterwegs. Drei Wohnhäuser und damit drei persönliche Geschichten wurden exemplarisch für diese Führung ausgewählt. Klaus Knoche zeichnete das Leben der Menschen nach, die in diesen Häusern in Jugenheim viele Jahre lang ihr Zuhause hatten, bevor sie von der Nazi-Diktatur, die den Terror mit erschreckender Gründlichkeit dokumentierte, vertrieben oder verschleppt und getötet wurden. Moritz Abraham lebt bis zu seiner Deportation 1942 in der Hauptstraße 24. Der Kleinwarenhändler heiratet 1882 die gebürtige Jugenheimerin Karoline Koppel. Das Ehepaar wohnt im Elternhaus von Karoline. 1926 wandert Karoline mit den beiden gemeinsamen Kindern in die USA aus, Moritz bleibt allein zurück und lebt fortan unter prekären Verhältnissen. Materielle Unterstützung während der Zeit der Weltwirtschaftskrise erhält er, laut Quellen von verschiedenen Jugenheimer Bürgern, nicht. Die Familie Friedrich Görisch, die in der Bahnhofstraße einen kleinen Lebensmittelladen betreibt, hilft Abraham ebenso wie Bürgermeister Philipp Hofmeyer (1933 bis 1945). Hofmeyer ist es auch, der die Nazi-Schergen in der Reichsprogramnacht (9. November 1938) bei einem Zusammentreffen im Gasthaus „Anker“ dazu bringt, Jugenheim zu verlassen, ohne Anschläge auf das jüdisches Leben in der Gemeinde zu verüben.

Moritz Abraham wird im Sommer 1938 in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach vier Monaten kommt er zurück nach Jugenheim und ist in der Folge zahlreichen Schikanen ausgesetzt. Er ist zu diesem Zeitpunkt der letzte jüdische Bürger in Jugenheim. 1942 wird Moritz Abraham über Darmstadt nach Piaski (Polen) abtransportiert, wo er im gleichen Jahr ermordet wird.

Die Wurzeln der Familie Koppel in Jugenheim sind bis zum Anfang des 19. Jahrhundert belegt. Heinrich Koppel, Bruder von Karoline Koppel und damit Schwager von Moritz Abraham, leitet mit seiner Frau Settchen, die 1928 verstirbt, lange Jahre die Pension und Gastwirtschaft Sandmühle (heute Ludwigstraße). Der Betrieb läuft gut im Luftkurort. Sohn Julius erlernt den Beruf des Kochs und übernimmt das Haus, das jüdische Organisationen regelmäßig als Treffpunkt und für Schulungen nutzen. Die Nazis verbieten diese jüdischen Veranstaltungen, die Pension verliert dadurch einen großen Teil des Umsatzes.

Sohn Julius geht mit seiner Frau Mathilde 1935 nach Köln, Vater Heinrich versucht, die Geschäfte wieder in Gang zu bringen. Ohne Erfolg. Ende 1938 schließt die Sandmühle. Heinrich folgt Julius nach Köln.

Berta (Palästina) und Karl Koppel (USA), die beiden andern Kinder von Heinrich und Settchen Koppel, gelingt die Flucht aus Deutschland. Heinrich Koppel (1942 in Treblinka), Julius und Mathilde Koppel (1942 in Kulmhof) werden ermordet. Ottilie und Siegfried Brodnitz kommen mit ihren drei Kindern 1922 nach Jugenheim. Die repräsentative Villa in der Hauptstraße 48 erbt Ottilie, die aus einer Industriellen-Familie stammt, von ihren Eltern. Siegfried Brodnitz ist Arzt und arbeitet in Frankfurt.

Die Familie ist angesehen in Jugenheim und bekannt für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber mittelosen Mitbürgern. Nach 1933 ist es Siegfried Brodnitz nicht mehr möglich, seinen Beruf auszuüben. Jüdischen Ärzten wird die Arbeitserlaubnis entzogen, er verliert seine Anstellung in Frankfurt. Das Vermögen der Familie wird eingezogen. Sohn Peter verlässt Deutschland 1935, er fällt 1943 als britischer Soldat in Italien im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Ottilie und Siegfried ziehen nach Frankfurt, im August 1942 wird das Ehepaar nach Theresienstadt transportiert und im September ermordet. Marta Brodnitz, die jüngere Tochter, wird 1942 nach Raasiku (Estland) deportiert und stirbt vermutlich auf dem Transport. Louise, die ältere Tochter, emigriert mit ihrem Mann Heinrich Türck und ihren drei Kindern nach England und überlebt als einzige der Jugenheimer Brodnitz-Familie den Zweiten Weltkrieg. Ein Grundstück in Jugenheim, das Louise nach dem Krieg zusteht, überlasst sie der Gemeinde, die auf der Fläche an der Ecke Sandmühlenstraße/Hauptstraße einen Spielplatz errichtet: die Brodnitz-Anlage.