02. März 2018 

Lese-Rechtschreibstörung und Rechenstörung – kein Buch mit 7 Siegeln

Ausbildung, Abitur und Studium können auch damit bewältigt werden!

BENSHEIM, März 2018 (meli), Wir unterstützen Sie als Eltern auf dem Weg vom Verdacht auf eine Teilleistungsstörung über die Diagnostik bis zur geeigneten Anleitung und Beratung, wie man mit diesem Problem umgehen kann. Nur Mut – Ihr Kind kann trotzdem sehr weit kommen! Woran merken Sie denn, ob Ihr Kind evtl. eine Lese- Rechtschreibstörung (Legasthenie, LRS) oder Rechenstörung (Dyskalkulie) haben könnte? Wahrscheinlich wird der Lehrer in der 1. oder 2. Klasse einen Verdacht äußern. Manchmal haben auch Eltern selbst den Eindruck, dass es mit Lesen, Schreiben oder Rechnen schwierig für ihr Kind ist. Wenn es mit Deutsch oder Rechnen Schwierigkeiten hat, bildet sich beim Kind allmählich eine Abwehrhaltung gegen das Fach aus, und ein „Hausaufgabenkrieg“ entsteht in Bezug auf Deutsch oder Rechnen. Dieser Hausaufgabenkrieg kann sich auch auf andere Fächer ausweiten.

Tagtägliche Frustrationserlebnisse werden im Verlauf von Monaten zu einem „Rucksack“, der das Kind bedrückt und der immer schwerer zu tragen wird; das Kind wird daher emotional zunehmend belastet und reagiert im Alltag – je nach Temperament – mehr oder weniger aggressiv- impulsiv oder zieht sich mehr und mehr zurück, geht nicht mehr nach draußen, möchte nicht mehr mit anderen Kindern spielen, verweigert wichtige Aktivitäten wie Sport, Pfadfinder, Jugendfeuerwehr o.ä.

Das Kind bemerkt auch, dass seine Klassenkameraden mit dem Erlernen von Lesen / Schreiben / Rechnen schneller vorankommen, sich leichter tun und bessere Noten haben, daher auch öfter gelobt werden. Die „schnelleren“ Kinder brauchen für die Erledigung der Hausaufgaben am Nachmittag weniger Zeit, können früher nach draussen zum Spielen gehen und fragen irgendwann nicht mehr bei Ihrem Kind an, weil Ihr Kind stundenlang an den Hausaufgaben sitzt und danach zum Spielen einfach keine Zeit mehr bleibt. Ihr Kind gerät dadurch mehr und mehr in die Isolation.

Soweit sollte man es aber nicht kommen lassen: im Zweifelsfall ist es sinnvoll, das Kind eher frühzeitig (ab Ende 1. Klasse / Anfang 2. Klasse) mit der Frage nach einer Teilleistungsstörung (Lese- Rechtschreibstörung, Rechenstörung) beim Kinder- und Jugendpsychiater vorzustellen. Was passiert bei einer solchen Vorstellung bzw. was wird gemacht? Zunächst wird bei einem Erstgespräch neben der aktuellen Problematik auch ausführlich über die Entwicklung des Kindes gesprochen: Besonderheiten bei Schwangerschaft und Geburt, Entwicklung von Motorik und Sprache, Besonderheiten in der Kindergartenzeit, somatische Vorerkrankungen, familiäre Erkrankungen sowie Vorkommen von LRS oder Dyskalkulie in der Familie.

Besonders wichtig ist die Frage, ob und inwieweit Ihr Kind darunter leidet, was in Alltag und Schule nicht gut klappt bzw. was vom Kind als schwierig empfunden wird. Kann Ihr Kind sich gut konzentrieren? Wie lange und bei welchen Aktivitäten klappt es mit der Konzentration? Lässt Ihr Kind sich leicht ablenken? Was macht Ihrem Kind in Alltag und Schule (noch) Spaß? Wie klappt es mit den Hausaufgaben, wie lange dauern sie etwa, wie ist der Stresspegel für Eltern und Kind sowie für Geschwister in der Hausaufgabensituation? Gibt es ausgleichende Aktivitäten, bei denen Ihr Kind wieder Selbstbewusstsein „auftanken“ kann? Was macht Ihr Kind am liebsten, womit hat es den größten Spaß, wie heißt der beste Freund, was kann Ihr Kind mit diesem zusammen machen / spielen usw.

Diese und noch mehr Fragen gehören zu einer kompletten Anamnese (Erstgespräch), damit ein detailliertes Bild des Kindes und seiner Stärken und Schwächen im Lebensalltag entsteht. In der Regel dauert dieses erste Gespräch eine Stunde. Kopien von Schulzeugnissen sind wertvolle Ergänzungen; daher sind wir dankbar, wenn Sie Zeugniskopien zum Erstgespräch mitbringen. Interessant sind für uns dabei weniger die Noten als vielmehr die Beschreibungen von Verhalten, Aufmerksamkeit und Konzentration, die in Grundschulzeugnissen enthalten sind. Natürlich ist es auch wichtig, dass Ihr Kind bei diesem Erstgespräch mit dabei ist, damit wir es kennenlernen. Die Gesprächsführung erfolgt unter Berücksichtigung von Alter und Entwicklungsstand des Kindes.

Bei einem zweiten Termin werden die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten bzw. die Rechenfähigkeiten geprüft. Dazu gibt es spezielle standardisierte Tests, die an Alter und Klassenstufe angepasst sind und entsprechend ausgewertet werden. Bei einem dritten Termin testen wir die Gesamt- Leistungsfähigkeit bzw. das intellektuelle Leistungsniveau des Kindes. Auch hierfür gibt es spezielle standardisierte Tests, die unter Berücksichtigung der Altersstufe von uns ausgewertet werden.

Bei einem vierten Termin werden alle Ergebnisse zusammengefasst und mit den Eltern besprochen. Der diagnostische Prozess und die Auswertung erfolgen gemäß den wissenschaftlichen Leitlinien; beim Besprechungstermin wird alles für Sie und Ihr Kind Wichtige in verständlicher Form zusammengefasst. Entscheidend ist für das Stellen der Diagnosen „Lese- Rechtschreibstörung“, „isolierte Rechtschreibstörung“ oder „Dyskalkulie“ die Frage, ob ein gewisser Abstand zwischen dem allgemeinen intellektuellen Leistungsniveau und dem Niveau der Lese-, Rechtschreib- oder Rechenfähigkeiten besteht. Beim Gesamtbild wird auch berücksichtigt, inwieweit Ihr Kind unter der Schwäche leidet und wie hoch ein evtl. „Frustrations- Pegel“ (Leidensdruck) schon angestiegen ist. Vor allem daher brauchen wir das ausführliche Erstgespräch und können nicht einfach nur testen und „nackte Zahlen“ miteinander in Beziehung setzen; der Mensch, das Kind spielt die Hauptrolle bzw. die Frage, inwieweit das Kind leidet und daher als Folge des Leidens eine Teilhabe am normalen Alltagsleben gefährdet, bedroht oder bereits beeinträchtigt ist.

Durch die Diagnostik (Erstgespräch und Testung) können wir auch feststellen, ob neben einer Teilleistungsstörung (LRS und / oder Dyskalkulie) evtl. weitere Störungen bestehen, durch die Ihr Kind belastet wird. LRS und Dyskalkulie können übrigens auch gleichzeitig nebeneinander bestehen. Nicht wenige Kinder haben neben einer Teilleistungsstörung auch eine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung, die das Kind ebenfalls belastet. Wenn das Kind ängstlich und / oder depressiv belastet erscheint, sind die Ursachen hierfür zu klären. Möglich ist, dass sich durch schulische Misserfolge bereits eine Angst vor der Schule entwickelt hat; die schulischen Misserfolge können beim Kind auch die Entstehung einer Depression bewirkt haben. Bei manchen Kindern kann auch „alles zusammen kommen“. Auch den Einfluss einer evtl. Mobbing- Situation darf man nicht vergessen. Nur der Fachmann kann zuverlässig beurteilen, welche Störungsbilder ggf. nebeneinander bestehen und wie die zeitliche Abfolge der Entstehung ist, d.h. was wodurch ausgelöst oder verursacht wurde.

Wenn die Diagnose einer LRS und / oder Dyskalkulie gestellt wurde, kommt als nächstes die Frage, was denn nun zu tun ist. Das betroffene Kind benötigt dringend Unterstützung. Ganz wichtig ist, dass man sich klar macht, dass eine Teilleistungsstörung nicht bedeutet, dass Ihr Kind „dumm“ ist. Viele Kinder denken das aber von sich und befinden sich deswegen in einer gefährlichen emotionalen „Abwärtsspirale“, aus der wir dem Kind heraus helfen können. Ich betone immer, dass es drei verschiedene „Baustellen“ sind, die zunächst nichts miteinander zu tun haben und daher unabhängig voneinander zu betrachten sind:
die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Kindes –
eine evtl. bestehende Teilleistungsstörung –
und, falls vorhanden, eine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung.
Man kann „schlau“ bzw. intelligent sein, auch wenn man eine Schwäche in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen und / oder mit der Konzentration hat.

Aber: eine solche Schwäche ist zugegebenermaßen lästig, und man braucht Unterstützung. Wir unterstützen Sie als Eltern, indem wir Sie ausführlich beraten. Wichtig ist z.B. die Frage, in welcher Situation Sie sich als Familie befinden – gibt es Geschwister, die auch von LRS betroffen sind, oder haben die Geschwister dieses Problem nicht? Hatten Sie als Eltern selbst eine Teilleistungsstörung und / oder eine Konzentrationsstörung? Wie kann man vermeiden, dass Ihr Kind in eine Mobbingsituation hineinrutscht? Sind Sie als Eltern sich in Bezug auf Ihren Erziehungsstil einig, d.h. ziehen Sie gemeinsam „an einem Strang?“ Manchmal wird der Leidensdruck eines Kindes durch zwar gut gemeintes, aber unzweckmäßiges Erziehungsverhalten unbeabsichtigt sogar noch verstärkt. Wir brauchen Sie und Ihre Beteiligung und Mitarbeit als Eltern und leiten Sie dabei an.

Spezielle pädagogische Unterstützung für Kinder mit Teilleistungsschwächen gibt es in Form von Lerntherapie. Lerntherapeuten sind speziell ausgebildete Pädagogen, die nichts anderes machen als eben Lerntherapie. Nun ist es in unserem Gesundheits- und Sozialsystem aus historisch gewachsenen Gründen so, dass Lerntherapie nicht von den Krankenkassen bezahlt wird. Aber es ist gesetzlich festgelegt, dass dafür die Jugendämter in die Bresche springen müssen. Allerdings benötigen Sie für Ihr Kind eine entsprechende fachärztliche Begutachtung. Sobald diese vorliegt, kann die Kostenübernahme zur Lerntherapie beim Jugendamt beantragt werden, und der Durchführung einer Lerntherapie steht nichts mehr im Wege. Hierbei braucht es dann etwas Geduld; man muss in der Regel mit mindestens zwei Jahren Dauer rechnen, und es muss zuhause mit dem Kind geübt werden – aber richtig. Wie man am effektivsten übt, zeigt Ihnen der Lerntherapeut.

Gleichzeitig kann man in der Schule einen sogenannten „Nachteilsausgleich“ beantragen. In der Grundschulzeit wird die Schulkonferenz bei einem Kind mit LRS normalerweise einen „Notenschutz“ für das Fach Deutsch genehmigen, d.h. dass Diktate nicht benotet werden und dass die schwächere Leseleistung entsprechend berücksichtigt wird. Für Kinder mit Dyskalkulie gibt es keinen Notenschutz, aber der Schwierigkeitsgrad und Umfang der Mathematikarbeiten kann für das Kind angepasst werden, und es kann mehr Zeit für die Bearbeitung der Mathearbeit bekommen. Ab der 5. Klasse liegt es im Ermessen der weiter führenden Schule, welche Art oder Form von Nachteilsausgleich dem Schüler gewährt wird.

Insgesamt kostet es also etwas Mühe und Geduld, aber man kann mit einer Lese- und Rechtschreibstörung durchaus auch Abitur machen: im fortgeschrittenen Jugendlichen- und jungen Erwachsenenalter lernen die Schüler zunehmend besser, die erlernten Rechtschreibregeln anzuwenden, und es treten immer weniger Fehler beim Schreiben auf. Auch ein Studium kann man mit LRS erfolgreich aufnehmen und abschließen.

Also: nur Mut, nicht den Kopf in den Sand stecken, frühzeitig Hilfe und Unterstützung holen, das vermeidet Überforderung und Unglücklichsein für Ihr Kind. Und: Ihr Kind kann trotz der Schwäche sehr weit kommen!

Autor:
Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie, Homöopathie
Nibelungenstr. 26
64625 Bensheim
Tel.: 06251/66478
www.praxis-wacker.de