08. März 2021 

Einschneidende Erinnerungen: Das Ende des „Home-Cuttings“

Öffnung der Friseursalons

ALSBACH-HÄHNLEIN, März 2021 (tr), Was Friseure können, können nur Friseure“: Im selbstbewussten Credo der Innung schwingt auch eine leise Warnung mit. Ein unmissverständlicher Verweis auf die hohe gesellschaftliche Relevanz einer handwerklichen Exklusivität, deren Abwesenheit aus einer fein frisierten Zivilisation binnen weniger Wochen ein ästhetisch abstoßendes Volk aus zotteligen Höhlenmenschen machen würde. Und genau das drohte der Menschheit im April letzten Jahres: Salons schlossen unter dem Druck des Lockdowns. Bald schon sah man die ersten aus der Fasson geratenen Corona-Köpfe mit grauen Ansätzen, kuchengabelartigem Spliss und ausgewachsenen Ponys über buschigen Augenbrauen durch die Gegend flitzen – dem eigenen Look mit intoleranten Blicken gegenüberstehend. Und mancher erlebte sich kurz davor, einen Hundefriseur zu konsultieren, die trotz allgemeiner Isolationstendenzen weiterhin öffnen durften.

Aus gutem Grund: Wird das Fell nicht gepflegt, kann es zu Verfilzungen und in deren Folge zu unschönen Hautreizungen kommen. Reizungen psychischer Natur traten auch bei jenen auf, die sich mit der ungezähmten Vegetation auf dem Haupt nicht arrangieren konnten oder wollten.
Neben Mund-Nasen-Masken erlebten daher auch Kopfbedeckungen aller Art eine saisonale Renaissance. Wahr ist, dass auch Haarschneidegeräte zwischenzeitlich ausverkauft waren. Als Ente aber erweis sich die Meldung, dass auch Ladengeschäfte und Einzelhandelsketten ihren Kunden einen Haarschnitt anbieten würden, um sich als systemrelevante Pflegedienstleister durchzuschmuggeln und ebenfalls bereits am 1. März – und auch bei Inzidenzen über 35 – wieder öffnen zu dürfen.

Es ist aber doch auch nachvollziehbar: Wenn die Kinder nicht mehr zwischen Kurzarbeitermama- und -Papa unterscheiden können, dann muss Berlin handeln. Frühjahrsmode und Kübelpflanzen, Impftermine und der Besuch bei Oma im Heim haben Zeit – Haare nicht. Der Friseur-Tourismus Richtung Luxemburg musste endlich gestoppt werden! Die Grenzen ins Großherzogtum sollten lieber dicht bleiben, um nicht mit infektiösen Nachbarn zu kollidieren. Zudem sind zweistündige Autoreisen für Waschen, Schneiden und Föhnen ökologisch nicht vertretbar. Auch dann nicht, wenn der Anlass die Zurückerlangung der persönlichen Würde zur Folge habe, wie es der Bayrische Ministerpräsident Söder gerechtfertigt hat, der im Übrigen obenherum in letzter Zeit ebenfalls etwas strähnig-verklebt ausgeschaut hat.

Sein Argument: die bundesweit 80.000 Friseure sind soziale Inseln für ältere Menschen, und es existiere so etwas wie ein gesellschaftlicher Achtungsanspruch, der es verbietet, mit zauseligen Haaren in der Öffentlichkeit auftreten zu müssen. Für die Aufrechterhaltung des nationalen Gleichgewichts ist dies wohl ungleich bedeutsamer als zum Beispiel ein banaler Restaurant- oder Kneipenbesuch oder gar der Genuss einer kulturellen Veranstaltung.

Die Trockenhaube als letzte demokratische Bastion eines heruntergefahrenen Gemeinwesens. Die Shutdown-Matte eine seelische Nötigung. Da musste man kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich angesichts dieser Regelung andere mehr oder weniger körpernahe Dienstleister und Gewerbetreibende alsbald die Haare raufen würden.
Bei staatlicher Ungleichbehandlung stößt jeder Altruismus an seine Grenzen. Da gibt es neidische Blicke von den Struwwelköpfen aus Handel und Gastronomie, die mit feuchten Augen auf ihrer Winterware hocken oder ihre abgelaufenen Biere in den Gulli kippen müssen. Hauptsache Haare schön! Schließlich konnten sich die Stylisten, Coiffeure und Designer vor unmoralischen Angeboten kaum noch retten und mussten ihre ganze Widerstandskraft aufbieten, um nicht in abgedunkelten Hobbykellern reiferen Damen aus der erweiterten Bekanntschaft die Ansätze zu färben. „Friseure sterben, Deine Haare wachsen weiter“, stand es wie eine Drohung auf den Schildern einer Branche, die für ihre berufliche Freiheit sogar auf die Straße ging.

Jetzt endlich hat es ein Ende mit der Heimarbeit. Neben Homeschooling und Homeoffice wäre ein dauerhaftes Homme-Cutting unzumutbar und eine latente Gefährdung des sozialen Friedens. Mehrteilige Sets mit austauschbaren Kammaufsätzen, winzigen Bürstchen und noch winzigeren Ölfläschchen werden aus dem Bad entfernt und verschwinden bei anderen ungeliebten, aber phasenweise unverzichtbaren Utensilien aus dem semi-professionellen Body- und Wellnesssegment. Nach desaströsen Versuchen mit der Nagel- oder Bastelschere haben sogar chronische Billigheimer und aktenkundige Knauserer 30 Euro für ein professionelles Werkzeug bezahlt. Die Ergebnisse dieser privaten Mäharbeiten wurden hinterher als „raffinierter Kurzhaarschnitt“ verkauft.

Ende, aus, vorbei. Übrig bleiben einschneidende Erinnerungen an scharfe Klingen und ein paar kleine dunkle Pünktchen über dem Toilettensitz, die dem Hausherrn beim heimischen Kolorieren der Lebenspartnerin vom Pinsel gespritzt sind. Wenn die Baumärkte wieder normal zugänglich sind, werden auch diese Spuren getilgt. Nach der zweiten Lockdown-Welle erwartet das Handwerk jetzt eine für sie erheblich sympathischere Kunden-Welle. Die Zwangspause ist durch, der Wildwuchs passé. Also Termine machen und flink einreihen in die Schlangen derer, die immer überall als erste dabei sein müssen.

Aber bitte an Herrn Söder denken: Die Wiedereröffnung der Friseure hat nicht nur mit Hygiene und Aussehen zu tun, sondern auch mit Würde. Auch, wenn der Ministerpräsident eine andere Ebene von Würde meint: Anmut und Erhabenheit gilt es auch in Krisenzeiten fleißig zu bewahren. Der Kopfschmuck ist diesbezüglich nicht von Belang.