01. September 2020 

Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen

BENSHEIM, September 2020 (awa), Schematherapie gehört zu den neuesten, aktuellsten Formen von Psychotherapie. Während die Schematherapie bei Erwachsenen schon seit 15 bis 20 Jahren international recht gut etabliert ist, ist die Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen erst in den letzten paar Jahren bekannter geworden. Der Begriff „Schematherapie“ ist m.E. etwas unglücklich gewählt und weckt unpassende Assoziationen. Entweder man denkt an ein „Schema“-artiges Vorgehen – „Schema F“ – was ja das Gegenteil von „individuell“ wäre. Oder manche verstehen sogar erstmal „Chemotherapie“ – eine Form von Therapie, die beim Kinder- und Jugendpsychiater nichts zu suchen hätte, und die Erschrecken auslöst.


Worum geht es also?
Es geht darum, dass im Lauf der Entwicklung jedes Menschen das eine oder andere Grundbedürfnis nicht genügend wahrgenommen und nicht genügend erfüllt wurde – warum auch immer. Es geht hier nicht um eine „Schuldfrage“.
Alle Eltern versuchen, ihren Kindern die bestmögliche Entwicklung zu ermöglichen. Da das Leben aber kein „Wunschkonzert“ ist, gelingt dies oft nicht so ganz „ideal“. Wir alle wissen, dass es Phasen im Leben gibt, während derer wir mehr oder weniger großen Zwängen und Erfordernissen ausgesetzt sind, bzw. während derer die Dinge nicht so laufen, wie wir es uns wünschen mögen. Niemand hat „ideale“ Startbedingungen. Wir alle kennen „Durststrecken“, die es zu überwinden gilt. Und wenn Kinder da sind, müssen diese natürlich auch ihren Eltern durch die schwierigen Phasen folgen. Lassen Sie uns nur an die Kriegs- und Nachkriegszeiten denken.So kann es sein, dass das eine oder andere Grundbedürfnis eines Kindes nicht ausreichend gesehen und berücksichtigt werden konnte.

Welches sind denn unsere Grundbedürfnisse?

  1. Grundbedürfnis nach Bindung: wir brauchen liebevolle, Halt gebende Beziehungen, wollen uns zugehörig fühlen zu einer Familie bzw. zu Gemeinschaften, die uns unterstützen
  2. Grundbedürfnis nach Autonomie: wir wollen uns unabhängig, selbstbestimmt und selbständig fühlen können
  3. Grundbedürfnis nach Selbstwert: wir brauchen Anerkennung, Bestätigung, Selbstachtung
  4. Grundbedürfnis nach Spiel, Spaß, Freude, Lustgewinn
  5. Grundbedürfnis nach Struktur, Grenzen, Orientierung, Identität, nach einer „Richtung im Leben“
    Wenn nun eines oder mehrere dieser Grundbedürfnisse in einer frühen Phase der Entwicklung nicht genügend befriedigt wurden, entsteht beim Kind eine emotionale „Wunde“, also so etwas wie eine „emotional überempfindliche Stelle“.
    Wir alle kennen Situationen, in denen wir überreagieren, wenn bzw. weil wir durch bestimmte Auslöser „getriggert“ werden. Diese „überempfindlichen Stellen“ bleiben im weiteren Verlauf des Lebens erhalten und bleiben weiterhin überempfindlich – daher reagieren wir auch als Erwachsene in bestimmten Situationen immer wieder überempfindlich – sei es im privaten Bereich, also mit Familie und Freunden, oder sei es im beruflichen Bereich.
    Ein wichtiger Unterschied zwischen privatem und beruflichem Bereich ist, dass wir uns im beruflichen Bereich viel mehr „zusammenreißen“. Das bedeutet: wir spüren die überempfindliche Stelle zwar auch mehr oder weniger bewusst, wir bemühen uns aber viel stärker um Kontrolle unserer Impulse, weil wir gelernt haben, dass „Überreaktionen“ im beruflichen Bereich rascher negative und unangenehme Konsequenzen haben können als im privaten Bereich.
    Das Überdauern der „emotionalen Wunden“ bedeutet letztlich, dass wir auch als Erwachsene zumindest teilweise – emotional gesehen – „für immer Kinder bleiben“.

Wir versuchen dies zwar in der Regel zu verbergen: wenn wir betroffen oder getroffen und verletzt, gekränkt sind, kämpfen wir darum, unsere Fassung zu behalten. Letztlich steht die Frage, welche Arten von Situationen uns betroffen und überempfindlich machen, uns also triggern, im Zusammenhang mit den emotionalen Wunden unserer Kindheit.

Eine „emotionale Wunde“ ist wie ein „Schema“, das uns das Leben aufgepresst oder „eingedrückt“ hat – so ähnlich wie ein Siegel in Wachs. Die Wunde kann zwar vernarben, sie bleibt aber überempfindlich. Und das „eingedrückte Schema“ hat der Schematherapie ihren Namen gegeben. Wir erinnern uns: Auslöser zur Entstehung des Schemas war die Frustration eines oder mehrerer Grundbedürfnisse.

Die „Wunde“ bleibt nach außen unsichtbar und kann nur indirekt erkannt oder erschlossen werden. Der erfahrene, sensible Menschenkenner bemerkt, wenn sein Gegenüber empfindlich „überreagiert“, ohne dass man dies selbst beabsichtigt hätte. Diese Art der „Überreaktion“ nennt man – vereinfacht ausgedrückt – „Modus“. Wenn wir bei unserem Gegenüber eine „empfindliche Stelle“ treffen, sind unterschiedliche Reaktionen / Modi möglich:

  1. Er oder sie könnte sichtbar traurig werden
  2. Er oder sie könnte ärgerlich werden
  3. Er oder sie könnte so wütend werden, dass er oder sie zum Angriff übergeht bzw. einen Wutanfall oder „Ausraster“ bekommt, d.h. die Situation könnte eskalieren
  4. Er oder sie könnte darüber hinweg gehen und die Situation einfach „erdulden“
  5. Er oder sie könnte
    A: versuchen, vom aktuellen, schwierigen Thema abzulenken, sei es in ruhigem, „einschläferndem“ Ton, oder auch
    B: durch mehr oder weniger passende Scherze, polternde Argumente o.ä.

Diese verschiedenen Arten, auf ein „emotionales Autsch“ (hervorgerufen durch Berühren / Triggern unserer „empfindlichen Stelle“) zu reagieren, werden in der Schematherapie als verschiedene „Modi“ gesehen:

  1. Der Modus des verletzbaren, traurigen, überforderten Kindes
  2. Der ärgerliche Modus
  3. Der „Angreifer-Modus“ (führt häufig zu einer Eskalation)
  4. Der Erduldungs- Modus (versucht so zu tun, als wäre nichts)
  5. A: Vermeidungs- Modus (versucht, jegliche schwierige Situation zu vermeiden)
    B: überkompensatorischer Modus (versucht, die schwierige Situation durch „Überspielen“ zu meistern)

Sie haben sich vielleicht schon selbst überprüft: auch Sie haben verschiedene „Modi“ zur Verfügung, mit denen Sie versuchen, durch den mehr oder weniger beschwerlichen Alltag zu kommen. Idealerweise können wir in diesem Alltag auch auf einen „cleveren Modus“ zurück greifen, der in der Lage ist, schwierige Situationen auf clevere und „erwachsene Art“ zu meistern. Bestimmt haben Sie sich schon oft vorgenommen, mit großer Ruhe und Umsicht an eine schwierige Situation heran zu gehen.

Hat es immer funktioniert? – Vielleicht manchmal, aber bestimmt nicht immer, oder? Das ist aber vollkommen normal und menschlich – jeder von uns kennt solche Situationen, in denen es mal wieder nicht geklappt hat, ganz ruhig und „erwachsen“ zu bleiben.

Unser Clever-Modus besteht aus allem, was wir gut können und was in unserem Leben „gut klappt“ – auf Neudeutsch sind das unsere „Ressourcen“. Und hier beginnt in der Regel das (schema)therapeutische Vorgehen: bei den Ressourcen. D.h. wir überlegen gemeinsam mit dem Patienten, was er bereits gut kann, was ihm Spaß macht, wo er sich gut, wohl und sicher fühlt. Je mehr wir über „Spaß“ und „sich wohl fühlen“ oder „glücklich und zufrieden sein“ sprechen, desto eher sind wir nicht mehr beim „Clever-Modus“, sondern beim „fröhlichen, zufriedenen Modus“.
Den cleveren Modus benötigen wir, um die (schwierigen) Dinge des Alltags zu „managen“. Im fröhlichen, zufriedenen Modus sind wir, wenn wir z.B. ein Hobby ausüben und für ein oder zwei Stunden mal den ganzen Alltagskram und die Zeit vergessen können und einfach nur Spaß haben an einer schönen Beschäftigung, ganz entspannt im Hier und Jetzt.

Worum geht es nun in der „Therapie“?
Es geht darum, zunächst bei den Ressourcen anzuknüpfen und sich klar zu machen, was man schon alles erreicht und geschafft hat und was alles bereits gut klappt. Das ist sehr wichtig, denn darauf kann und sollte man stolz sein! Es geht darum, sich klar zu machen, welche Situationen denn eigentlich als Trigger wirksam sind und in unserem Leben ein „emotionales Autsch“ verursachen. Es geht darum, sich zu überlegen: wie reagiere ich, wenn ich ein „Autsch“ spüre? Was mache ich? In welchem Modus reagiere ich bevorzugt? Wenn ich nämlich häufig im „Angreifer-Modus“ reagiere, kommt es vermutlich in meinem Leben häufiger zu Eskalationen. Und das ist auf Dauer sehr anstrengend und destruktiv. Ich habe dann nämlich immer wieder sehr unangenehme Gefühle und zerschlage durch meine heftigen Reaktionen evtl. immer wieder „Beziehungs-Porzellan“.

Also kann ich gemeinsam mit dem Therapeuten überlegen, was ich verändern kann, damit ich immer häufiger in schwierigen Situationen im „Clever-Modus“ reagiere und immer seltener im „Angreifer- Modus“.
Ganz einfach ist das natürlich nicht, sonst bräuchte man ja auch keinen ausgebildeten Therapeuten… – zur Info: die Ausbildung zum Schematherapeuten setzt voraus, dass man bereits ausgebildeter und praktizierender Therapeut ist.

Bei der schematherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist nun natürlich noch zu berücksichtigen, dass die Kinder und Jugendlichen nicht in einem „Vakuum“ leben oder aufwachsen, sondern in einer Familie, und mit ihren engen Bezugspersonen zusammen leben.
Nun kommt der absolute „Clou“: die Eltern und Bezugspersonen sind ja selbst auch Menschen, und sie haben daher selbst auch „empfindliche Stellen“. Und was im Alltag häufig passiert, ist Folgendes:
Ein Kind / ein Jugendlicher reagiert in einer Alltagssituation empfindlich (z.B. bei Anforderungen wie Hausaufgaben oder Mithilfe im Haushalt), reagiert also über.

Jetzt kommt’s:
Diese Über-Reaktion des Kindes / Jugendlichen wird nicht selten zum Auslöser / Trigger für die „empfindliche Stelle“ der Eltern- oder auch Lehrerperson – es kommt zum Streit, zur Eskalation – und das nennt man dann „Modus-Clash“! Haben Sie so etwas schon einmal erlebt? Bestimmt, oder?

Die Situation eskaliert in der einen oder anderen Weise, und das ist es, was – leider verstärkt seit Corona, weil durch die soziale Isolation in vielen Familien die „Nerven blank liegen“ – in vielen Familien unzählige Male passiert ist und sowieso im Alltag immer wieder und immer weiter passiert.
Dies individuell zu analysieren und Lösungen zu erarbeiten, ist wichtiges Ziel der Schematherapie.

Klar ist damit aber auch: Eltern sollten nicht erwarten, ihr Kind zum Therapeuten „in Reparatur“ zu geben, sondern sie müssen sich mit ihren eigenen „überempfindlichen Seiten“ auseinander setzen, das passiert dann z.B. beim Eltern-Coaching im Rahmen der schematherapeutischen Behandlung ihres Kindes.

Und da diese Form der Auseinandersetzung mit sich selbst durchaus nicht immer einfach ist, erfordert sie gerade bei den Eltern ein hohes Maß an Motivation und Bereitschaft zur Selbstreflexion, Mitarbeit und auch zur Veränderung bestehender, seit langem eingefahrener Muster.

Wenn diese Bereitschaft vorhanden ist, sind durch die Schematherapie ganz erstaunliche und großartige Veränderungen und Erfolge möglich.
Und das macht dann echt Spaß! 😉

Bücher zum Thema:
– Eckhard Roediger: Raus aus den Lebensfallen! Das Schematherapie-Patientenbuch; Junfermann Verlag Paderborn, 2. Aufl. 2015
– Christof Loose, Peter Graaf, Gerhard Zarbock: Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen; Beltz Verlag 2013

Autor:

Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und –psychotherapie, Homöopathie –

Nibelungenstr. 26, 64625 Bensheim
Tel. 06251 – 66478, Fax – 66278
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