Bensheim, Gesundheit-Beauty-Wellness

Ein Zeichen von Kindern an Kinder. Gemalte Regenbogen werden unter Kindern zum positiven Zeichen gegen die Isolation während der Corona-Pandemie. Foto: Shutterstock
08. Mai 2020 

Wie erleben Familien die Corona- Krise?

Auswirkungen von „Schule ohne Schule“ auf den Alltag zuhause

BENSHEIM, Mai 2020 (awa), In meiner Praxis erlebe ich die unterschiedlichsten Reaktionen von Kindern, Jugendlichen und Eltern auf die zurückliegenden und aktuellen Einschränkungen. Ich bekomme auch mit, dass die diversen Schulen sehr unterschiedlich mit der „Herausforderung Corona“ umgehen / umgegangen sind. Zunächst zu den Schulen: es gibt eine sehr große Bandbreite, wie umfassend bzw. vollständig und über welche Wege (Papier oder elektronisch) die Schüler mit Aufgaben versorgt wurden.

Auch die Möglichkeiten, dass Schüler oder Eltern mit Lehrern kommunizieren können und von ihnen Feedback bekommen, variieren sehr stark.


Die IT- mediale Ausstattung der Familien unterscheidet sich ebenfalls von Familie zu Familie deutlich; und die diversen, von den Schulen angebotenen elektronischen Kommunikations-Tools funktionieren mehr oder weniger gut. In manchen Schulen mussten die Lehrer erstmal Emailadressen ihrer Schüler eruieren oder sich händisch aufschreiben, bevor sie Aufgaben verschicken konnten… Manche gut funktionierenden Video- Unterrichtseinheiten wurden wieder gestrichen, da sie nicht jedem Schüler zugänglich gemacht werden konnten. Im Praxisalltag begegne ich einer unglaublichen Fülle unterschiedlicher Schilderungen des „Schulalltags ohne Schule“ mit sehr zufriedenen, aber auch mit sehr frustrierten Kindern, Jugendlichen und Eltern.

Wieviel Platz gibt es in der Familie? Gibt es Rückzugsmöglichkeiten für jeden, oder besteht räumliche Enge, so dass Ärger und Eskalationen vorprogrammiert sind?

Besonders schwierig ist die Situation für allein erziehende Eltern kleiner Kinder, die im Homeoffice arbeiten und keinen Zugang zur „Notbetreuung“ in Kindergarten oder Schule haben. Diese Mütter oder Väter haben praktische keine Verschnaufpause und geraten in hohen Stress.

Besonders für Kinder und Jugendliche, die mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen haben, ist es schwierig und mühsam, zuhause überhaupt ins Arbeiten zu kommen. Nicht alle Eltern sind in der Lage, ihren Kindern genügend Struktur und Unterstützung in der Planung und Organisation des Aufgaben- und Lernplans zu geben. Planung gibt Sicherheit; Planung zu erstellen, umzusetzen und auf Wirksamkeit zu überwachen, ist jedoch anstrengend und erfordert viel Energie und zeitliche Ressourcen auf Seiten der Eltern.


Da Kinder, die unter Konzentrationsproblemen leiden, immer auch sehr impulsiv sind und Schwierigkeiten haben, sich in Konfliktsituationen zu steuern bzw. Bedürfnisse aufzuschieben, „kracht“ es in vielen Familien nicht mehr nur am Nachmittag, wenn es um die Hausaufgaben geht, sondern nun den ganzen Tag lang. Das ist für Kinder und Eltern sehr anstrengend.

Die meisten Schüler vermissen die realen, nicht- virtuellen Kontakte zu Mitschülern, Freunden, Lehrern, Trainern etc.

Für sozial ängstliche Kinder und Jugendliche jedoch – und davon gibt es nicht wenige – sind die Einschränkungen der Corona- Krise sozusagen „paradiesisch“: endlich können, ja müssen sie ihrer Neigung nachgehen, wenig reale Kontakte zu haben, nicht rausgehen zu müssen; sie dürfen sich endlich nach Herzenslust zurückziehen und in ihrem Zimmer „verschanzen“. Umso schwieriger dürfte es „nach Corona“ werden, sie wieder zu motivieren, nach draußen zu gehen und wieder regelmäßige Aktivitäten mit Gleichaltrigen aufzunehmen oder gar neu zu beginnen. Wenn die Eltern ihren Kindern nicht ganz klar signalisieren, dass sie den permanenten Rückzug ihres Sprößlings nach dem „Exit“ nicht weiter hinnehmen werden, sind hoch problematische, chronische Entwicklungen mit Schulabsentismus (Vermeiden des Schulbesuchs) kaum mehr abzuwenden.

Inwieweit häuslicher Stress und häusliche Enge zu vermehrten aggressiven Eskalationen in den Familien führt, werden wir vermutlich erst mit einigem zeitlichem Abstand erfahren, wenn es möglich sein wird, rückblickend zu reflektieren. Dazu müssen wir wahrscheinlich erst wieder in der „Normalität“ angekommen sein.

In Hessen finde ich sehr positiv und erleichternd, dass die schriftlichen Abiturprüfungen bereits absolviert wurden. Bleibt zu hoffen, dass dies mit den Real- und Hauptschulprüfungen ebenso gelingt. Denn: nichts ist schlimmer als eine fehlende Perspektive, wie es weiter gehen kann. Dazu braucht es einen Abschluss. Allerdings dürften sich Bewerbungen um Ausbildungs-, Studien-, FSJ- Plätze etc. teilweise nach hinten verschieben, da Entscheidungen über Bewerber mangels persönlicher Vorstellungsgespräche nicht zeitig getroffen werden konnten.

Die folgenden konkreten Empfehlungen und Vorschläge stammen von der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (AACAP) und wurden von Herrn Dr. Ingo Spitczok von Brisinski (Viersen; publiziert in: forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Heft 1/2020, S. 3-4) ins Deutsche übersetzt:

  1. Schaffen Sie eine offene und unterstützende Atmosphäre, in der Kinder wissen, dass sie Fragen stellen dürfen. Die Kinder sollten jedoch nicht gezwungen werden, darüber zu sprechen, solange sie nicht dazu bereit sind.
  2. Beantworten Sie Fragen aufrichtig. Normalerweise erkennen Kinder oder finden es irgendwann heraus, wenn Sie „Dinge erfinden“. Dies kann ihre Fähigkeit beeinträchtigen, in der Zukunft Ihnen oder Ihren Zusicherungen noch zu vertrauen.
  3. Verwenden Sie Wörter und Konzepte, die Kinder verstehen können. Stimmen Sie Ihre Erklärungen auf Alter, Sprache und Entwicklungsstand des Kindes ab.
  4. Helfen Sie Kindern, genaue und aktuelle Informationen zu finden. Drucken Sie ggf. geeignete Texte und Abbildungen des RKI (Robert- Koch- Institut) und der WHO (Welt- Gesundheitsorganisation) aus.
  5. Seien Sie bereit, Informationen und Erklärungen mehrmals zu wiederholen. Manche Information mag schwer zu akzeptieren oder zu verstehen sein. Wenn das Kind die gleiche Frage immer und immer wieder stellt, kann dies eine Möglichkeit für das Kind sein, um Bestätigung und / oder Beruhigung zu bitten.
  6. Erkennen Sie die Gedanken, Gefühle und Reaktionen des Kindes an und bestätigen Sie sie. Vermitteln Sie dem Kind, dass seine Fragen und Bedenken wichtig und angemessen sind.
  7. Denken Sie daran, dass Kinder dazu neigen, Situationen zu personalisieren. Zum Beispiel können sie sich Sorgen machen über ihre eigene Sicherheit und die Sicherheit der unmittelbaren Familienmitglieder oder um Freunde und Verwandte, die reisen oder weit weg wohnen.
  8. Beruhigen Sie Ihr Kind, aber machen Sie keine unrealistischen Versprechungen. Es ist in Ordnung, Kinder darüber zu informieren, dass sie sicher sind in ihrem Haus oder in ihrer Schule. Aber Sie sollten nicht versprechen, dass es keine Coronavirusinfektionen in Ihrer Region geben wird.
  9. Lassen Sie die Kinder wissen, dass es viele Menschen gibt, die den vom Coronavirus- Ausbruch Betroffenen helfen. Dies ist eine gute Gelegenheit, Kindern zu zeigen, dass es Menschen gibt, die helfen, wenn etwas Beängstigendes oder Schlimmes passiert.
  10. Kinder lernen vom Beobachten ihrer Eltern und Lehrer. Sie werden sehr interessiert daran sein, wie Sie auf Nachrichten zum Coronavirus reagieren. Sie lernen auch, wenn sie Ihren Gesprächen mit anderen Erwachsenen lauschen.
  11. Lassen Sie Ihre Kinder nicht zu viel erschreckende Bilder im Fernsehen schauen. Die Wiederholung solcher Szenen kann beunruhigend und verwirrend sein.
  12. Kinder, die in der Vergangenheit schwere Krankheiten oder Verluste erlitten haben, sind besonders verwundbar durch längere oder intensive Reaktionen auf Bilder von Krankheit oder Tod. Diese Kinder benötigen möglicherweise zusätzliche Unterstützung und Aufmerksamkeit.
  13. Kinder, die sich übermäßig mit Fragen oder Sorgen bezüglich Coronavirus beschäftigen, sollten von einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten untersucht werden. Andere Anzeichen dafür, dass ein Kind fachliche Hilfe benötigt, sind: länger anhaltende Schlafstörungen, sich aufdrängende Gedanken oder Sorgen, wiederkehrende Ängste vor Krankheit oder Tod, oder Widerwillen, sich von den Eltern zu trennen oder zur Schule zu gehen.
  14. Auch wenn Eltern und Lehrer die Nachrichten und die täglichen Aktualisierungen mit Interesse und Aufmerksamkeit verfolgen mögen, wollen die meisten Kinder einfach nur Kinder sein. Sie wollen vielleicht nicht darüber nachdenken, was im ganzen Land oder anderswo auf der Welt passiert. Sie würden lieber Ball spielen, rodeln, auf Bäume klettern oder Fahrrad fahren.

In diesem Sinne: bleiben Sie gesund, und bleiben Sie positiv 🙂

Autor:

Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, Homöopathie
Nibelungenstr. 26

64625 Bensheim
Tel. 06251 – 66478, Fax – 66278
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