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Die Energiezentrale auf dem Campus Lichtwiese: Der Hamburger Künstler Matthias Berthold hat die Außenfassade des Gebäudes mit seinem „Wortfeld“ gestaltet. Foto: Patrick Bal
15. Juli 2019 

Frisches Lesefutter für Darmstadt

Matthias Berthold hat zwei Fassaden der neuen TU-Energiezentrale in Darmstadt mit seinem „Wortfeld zu einem Flächenkunstwerk gemacht

DARMSTADT, Juli 2019 (tri), Wer sich Ende Mai über die Eugen-Kogon-Straße zum Campus Lichtwiese bewegt hat, der konnte ihn sehen. Live und in kreativer Mission. Der Hamburger Künstler Matthias Berthold hat die Fassaden der neuen TU-Energiezentrale mit seinem „Wortfeld“ gestaltet. Ein Flächenkunstwerk aus grauem Beton, rund zehn Meter hoch und von nahezu quadratischer Form. 39 Wörter, die beim Betrachter eine semantische Assoziationskette auslösen. Ein gelungenes Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum, das jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

„Es sind sozusagen Anfänge von Bedeutungen, die letztlich aber offen bleiben“, sagt der Künstler über sein großflächiges Werk. Bereits im Frühjahr 2018 hatte die Technische Universität Darmstadt einen Wettbewerb zur Gestaltung der Außenfassade des neuen Gebäudes ausgeschrieben. Aus den knapp 60 Einsendungen wurde die Arbeit von Matthias Berthold ausgewählt. Keine einfache Aufgabe, wie TU-Kanzler Dr. Manfred Efinger beim Pressetermin betonte. Berthold, geboren 1964 in Lübeck, hat in Hamburg Ethnologie und Illustration studiert und arbeitet seit 1992 als bildender Künstler. Seit 2005 widmet er sich vermehrt der Kunst im öffentlichen Raum und entwickelt partizipative Kunstprojekte häufig in Zusammenarbeit mit Schülern.

Mit Hilfe von Schablonen brachte er die Wörter in dunkelblauer Farbe direkt auf die graue Betonfassade auf. Für den Künstler ein Verweis auf die gelehrten Studienfächer der TU, die eine besondere Sachlichkeit und Genauigkeit erforderten, sagt er. Und auch die neue Energiezentrale sei durch ausgesprochene Nüchternheit und puristische Linienführung geprägt. Ein Zweckbau halt. Denn rein architektonisch kann die 17 Millionen Euro teure Energiezentrale an der Franziska-Braun-Straße kaum reüssieren. Dafür musste die Kunst her.

Die rechteckigen Betonelemente der Fassade, durch Montagefugen gegliedert, erzeugen ein strukturiertes Rasterfeld. Diese Struktur macht sich Bertholds Entwurf zunutze: er entwickelt eine Art Spielfeld, auf dem die Wörter keine festen logischen Verbindungen eingehen, sondern als Textfragmente in der Schwebe bleiben. Der Blick wandert über die Begriffe, während der Kopf immer wieder neue sinnhafte Zusammenhänge und Bedeutungsketten entwirft. Für die TU stand fest: Die nackten Fassaden an der Einfallstraße zum Campus Lichtwiese sollten alle Blicke auf sich ziehen. Aber bitte mit Niveau. Der Kunstwettbewerb habe zum erhofften Ziel geführt, so Efinger vor Ort.

In der Tat kann sich das Auge kaum von der Fassade lösen. Man liest „bald“, „schnell“ und „als“, „kaum“ oder „bei“, und die Wahrnehmung bringt das Hirn zum Hüpfen. Wie bei einem übergroßen Wort- oder Silbenrätsel möchte man hinter das Geheimnis dieser Teil-Beschriftung kommen. Man jagt unsichtbaren Sätzen hinterher, verstrickt sich in abenteuerliche Kombinationen und Ergänzungsexperimente.

Der Betrachter assoziiert Subjekte, Objekte und Prädikate, probiert sich in vertikalen, horizontalen und diagonalen Les-Arten oder jongliert gar mit komplexeren mathematischen Strukturen, die man entschlüsseln muss, damit aus dem artifiziellen, noch sinnlosen Wortfeld ein sinniger Text wird. Matthias Berthold, der schon sehr häufig Kunst im öffentlichen Raum geschaffen hat, schenkt der Fantasie freien Raum. Während der Schaffung des Kunstwerks habe er bei Passanten widersprüchliche Reaktionen erlebt, sagt er.

Der spielerische Umgang mit Sprache löse bei manchen eine begeisterte Kreativität und Lust am Kombinieren aus – andere hätten eher gelangweilt oder gar augenrollend reagiert. Matthias Bertholds „Wortfeld“ ereignet sich im freien Raum. Ohne Trennwände, Tickets und Türsteher. Public Art jenseits musealer Grenzen, mit der die Menschen kollidieren sollen, die kollektive Diskussionen entfacht und die Funktion öffentlicher Architektur mit frischer Energie auflädt. Ideal für eine Energiezentrale.