Darmstadt

Noble  Fassade: Doch das in dritter Generation geführte Traditionshaus tritt kürzer. Foto: tt
15. Oktober 2023 

Großes Darmstädter Modehaus reagiert auf Fachkräftemangel im Einzelhandel

Viertage-Woche bei Henschel: Neues Arbeitsmodell soll Jobs attraktiver machen – und die City stärken

DARMSTADT, Oktober 2023 (tt), Für die Auszubildende Sarah Schütz ist die Viertage-Woche ideal. „Ich habe mich gleich angemeldet“, sagt sie. Genauso wie alle anderen Jugendlichen, die ihre berufliche Karriere im Modehaus Henschel beginnen. Die angehende Handelsfachwirtin sieht Job und Freizeit als Lebensfaktoren im Gleichgewicht. Durch das neue Modell bleibe ihr mehr Zeit für Freunde und das Lernen in der Berufsschule. Work-Life-Balance nennt man das Neudeutsch. Immer mehr Menschen wollen beruflich einen Gang zurückschalten. Das Argument: Arbeit allein macht nicht glücklich. Neue Lebenskonzepte verdrängen konservative Arbeitswelten.

Dass sich gut ein Drittel der kompletten Belegschaft sofort für die Viertage-Woche entschieden hatten, macht den geschäftsführenden Gesellschafter Dr. Moritz Koch durchaus glücklich. Für die Mitarbeiter bedeutet das eine Verringerung der Arbeitszeit um rund fünf Prozent. Wer mitmacht, fängt morgens eine Stunde früher an und arbeitet an vier Tagen jeweils neun Stunden, erläutert Koch bei einem Besuch der Saarländischen Ministerpräsidentin Anke Rehlinger Ende August in der Darmstädter Filiale des Unternehmens. Ein klassischer Wahlkampftermin. Doch das Thema ist zeitlos und dauerhaft akut: der Fachkräftemangel trifft die Branche hart. Der Einzelhandel hat schwere Probleme, geeigneten Nachwuchs zu rekrutieren.

Durch das reduzierte Job-Angebot erwartet das in dritter Generation geführte Familienunternehmen einen Anstieg an qualifizierten Bewerbungen insbesondere in den Bereichen Abteilungsleitung und Modeberatung in Vollzeit. Man will sich als zukunftsfähiger, moderner Arbeitgeber positionieren. Außen vor sind die beiden oberen Führungsebenen und die Gastromitarbeiter im hauseigenen Dachrestaurant „Obendrüber“. Sie müssen weiterhin fünf Tage im Haus erscheinen. Insgesamt hat Henschel gut 200 Mitarbeiter an seinem Darmstädter Standort. Aber auch in den Filialen in Heidelberg, Michelstadt und Lübeck will man über kurz oder lang zeitgemäße Arbeitszeitmodelle umsetzen.

Während einer dreimonatigen Testphase können Mitarbeiter ausprobieren, ob ihnen der neue Ablauf gefällt – oder wieder zum herkömmlichen Modell zurückkehren. Sollte sich der Versuchsballon als erfolgreich herausstellen, werde die Vier-Tage-Woche im Anschluss endgültig eingeführt, so Koch. Finanziell sollen die Kurz-Arbeiter keinen Nachteil haben: die Differenz zwischen den 36 Stunden und der vertraglichen Wochenarbeitszeit werde durch die Einbindung bei Kundenevents sowie durch Sonntags- oder Abendöffnungszeiten ausgeglichen.

Letztlich geht es bei dem Pilotprojekt aber nicht nur um die persönlichen Jobperspektiven der Menschen, sondern um eine Belebung der gesamten Innenstadt. Besser gesagt: um eine Wiederbelebung. Denn der alte Glanz ist schwer gebröckelt. Leerstände und Billigheimer breiten sich aus. Der Wissenschafts- und Kulturstadt steht das ungut zu Gesicht. Spätestens 2022 hatte der allgemeine Negativtrend auch Darmstadt erreicht. Zuvor präsentierte sich die Innenstadt vergleichsweise krisenfest. Bei einem Rundgang Ende Dezember in der Fußgängerzone wurden dann allerdings 44 leere Läden bilanziert, mit einem deutlichen Schwerpunkt in der Wilhelminen- und Elisabethenstraße.

Zuschauen will man dabei nicht. Das Innenstadtentwicklungskonzept mit dem Namen „DA mittendrin” soll eine strategische Grundlage für eine attraktive Darmstädter Innenstadt schaffen, in der neben Einzelhandel und Gastronomie auch die Kultur wieder eine stärkere Rolle einnehmen soll. Konkrete Handlungsempfehlungen will man laut Rathaus nun zeitnah umsetzen. Mit dem Konzept reagiert die Stadt aber auch auf die wachsende Bedrohung des innerstädtischen Einzelhandels durch die Online-Konkurrenz und das veränderte Konsum- und Freizeitverhalten der Menschen.
Noch aber ist die Trostlosigkeit in der Fußgängerzone kaum zu übersehen – und auch nicht schönzureden. Abgeklebte Schaufenster, Schlussverkaufsplakate und nomadisierende Kleinhändler, die leere Geschäftsflächen wenigstens ein paar Monate lang mit niederpreisigen Waren füllen. Eine Handvoll Pop-up-Stores halten die Stellung, sind aber am Ende auch nur vorübergehende Kosmetik. „Jeder einzelne Leerstand schadet der Innenstadt“, so Moritz Koch über die Ausbreitung der „schwarzen Löcher“ in den besten Lagen. Lediglich das Luisencenter wirkt belebt, doch auch dort gibt es Abwanderungen. Nur fallen sie in dieser Umgebung weniger auf. Doch auch dieser Komplex bleibt ein hermetisch geschlossener Monolith in einer offenen Umgebung. Langfristig will man auch hier eine Auflockerung mit kleinteiligen Stores und Gastronischen erreichen.

Der wohl prominenteste Abgang ist die Schließung der Galeria-Kaufhof-Filiale am Weißen Turm, gleich gegenüber des Modehauses Henschel. Das Aus in Darmstadt ist die Folge eines wirtschaftlichen Tsunamis: bundesweit machen insgesamt 52 Filialen dicht. Ende Januar gehen die Türen endgültig zu. 60 Beschäftigte sind betroffen. Die Endzeitstimmung im Innern ist offensichtlich. Die meisten Nischen sind ausgeräumt, die restliche Ware wird an Sammelkasse feilgeboten. Wurde die Eröffnung des Kaufhauses im Oktober 1953 noch als Signal des wirtschaftlichen Aufbruchs verstanden, markiert die Aufgabe jetzt symbolisch einen allgemeinen Niedergang – aber vielleicht auch einen Neubeginn. Die freiwerdenden Flächen will die Stadt mit „zukunftsweisenden Lösungen“ auf der Grundlage einer intelligenten Nachnutzungsstrategie neu bespielen. Der Begriff „Mittendrin-Haus“ macht die Runde. Ein Ort mit Gastronomie und Einzelhandel, konsumfreien Treffpunkten und Raum für gesellschaftliches Engagement, Wissen und Produktion soll es werden.

Der Einfluss der Stadt bleibe jedoch nicht auf eine Vermittlungsposition beschränkt, heißt es. Ist ein Leerstand absehbar, sei ein mehrstufiger Prozess vorgesehen, in dem die Stadt aktiv und bei Bedarf auch als Käufer oder Zwischennutzer auftreten könnte. Dafür wurde Anfang des Jahres eine spezielle Vorkaufsrechtssatzung für die Innenstadt beschlossen. Zentrale Anlaufstelle ist das Quartiersmanagement.

Bei Henschel herrscht leise Zuversicht. Das Pilotmodell sei ein Signal an die Mitarbeiter – alte wie neue – und ein richtiger Schritt, ist Moritz Koch überzeugt. Beim Gespräch mit der Ministerpräsidentin im 2018 eröffneten Restaurant- und Barkonzept auf der vierten Etage betonte er, dass auch die kulinarische Etage Shoppinggäste anlocken soll. Es gehe um ein stimmiges Einkaufserlebnis, das alle Sinne anspricht. Vom Erdgeschoss bis zum Rooftop. Um das zu erreichen, wurden vor fünf Jahren zehn Millionen Euro investiert, um das Modehaus mit seiner feinen Jugendstilfassade auch innenarchitektonisch zu veredeln. Kaum Plastik, dafür viel Holz, Glas, Stein, Beton und Stahl.

Von der Dachterrasse reicht der Blick auf die City, den Marktplatz und das Schloss. Eine Panorama-Perspektive über eine Innenstadt, in der sich in den nächsten Jahren eine Menge tun soll. Tun muss.