One-Man-Show und Wanderzirkus
Walter Renneisen feiert 60-jähriges Bühnenjubiläum
BENSHEIM, Dezember 2022 (tt), Er ist eine One-Man-Show auf und hinter der Bühne. Dramaturg, Regisseur, Musiker und Impresario. Aber auch als Plakat- und Programmheftgestalter sowie als Licht- und Tontechniker hält Walter Renneisen seinen „Wanderzirkus“ am Laufen. Ein Name als Marke. In diesem Jahr begeht der Schauspieler sein 60-jähriges Bühnenjubiläum. Zugleich wird seine Gastspielfirma 30 Jahre alt. Für Renneisen Grund genug, die beiden runden Daten mit einer Doppelvorstellung im Bensheimer Parktheater zu feiern. Vor echtem Publikum.
1992 ging Renneisen erstmals mit 20 Aufführungen von Patrick Süskinds „Der Kontrabass“ auf Tournee. Und auch über drei Jahrzehnte nach seiner Premiere im kleinen Bensheimer Kellertheater der „Erdferkel“ spielt er die auch physisch sehr anspruchsvolle Rolle virtuos. Vielleicht sogar besser als in den Jahren zuvor, wie er dezent andeutet. Denn die kulturelle Flaute durch Corona hat zwar seine Branche massiv ins Mark getroffen und auch ihm selbst eine lange Bühnenpause verordnet – doch hat er die Zeit kreativ genutzt, um sich aktiv mit alten und neuen Stoffen auseinanderzusetzen. In seinem Auerbacher Domizil hat er außerdem einen historischen Zirkuswagen auf Vordermann gebracht, der nun künftig als Märchenmobil zur Sprachförderung junger Menschen durch die Lande rollen soll. Ein Projekt, das der gebürtige Mainzer unbedingt realisieren möchte. Genauso wie ein Live-Hörspiel, mit dem er seit einigen Monaten schwanger geht.
Grimme-Preis, hessischer Verdienstorden, Rheingau Musik-Preis, Bundesverdienstkreuz und Hörspielpreis der Kriegsblinden. Die Liste gesellschaftlicher und künstlerischer Meriten ließe sich fortsetzen. 2019 wird ihm der Spirwes Jurypreis verliehen. 2020 wird er vierter Turmschreiber der Stadt Darmstadt: ein symbolisches Amt, das seit 2013 alle zwei Jahre vom Förderkreis Hochzeitsturm vergeben wird. Doch die geplanten Termine im Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe stehen unter keinem guten Stern – wenige Wochen später bricht die Pandemie über das Land herein. Das Amt wird verlängert. Noch in diesem Sommer hat der „Sprachmusikant“ im Turm einige Lesungen inszeniert. „Ich werde arbeiten, so lange ich kann“, sagt Renneisen, Jahrgang 1940.
Dabei hätte alles ganz anders kommen können. Der Bub wächst mit einem Bruder und einer Schwester auf einem Bauernhof in Raunheim auf. Die Landwirtschaft füllt die Mägen der Familie. Der Vater erkrankt, die Mutter steht bei Opel am Band. Nach dem Abitur in Rüsselsheim trommelt er in einer Beatband, um sich etwas fürs Studium dazu zu verdienen. Er tingelt durch Frankfurter „Ami“-Bars, wo er vor GIs spielt. Einmal sogar als Vorgruppe für die Band eines gewissen Bill Haley. Doch für den Berufsmusiker habe es nicht gereicht, sagt er. Also wurde er Multiinstrumentalist, ein leidenschaftlicher Dilettant im Wortsinn: ein Liebhaber ohne schulmäßige Ausbildung, der sich aus purem Interesse, Vergnügen und Passion in die Musik stürzt. Das kann vielleicht nicht jeder Profi von sich behaupten.
In Köln und Mainz studiert er Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1964 schreibt er sich an der Bochumer Schauspielschule ein. Nach dem Abschluss warteten Engagements unter anderem am Schauspielhaus Bochum, in Dortmund und Darmstadt, wo er am Staatstheater seine spätere Frau Elisabeth kennenlernt. Als festes Ensemblemitglied des Staatstheaters war ihm dort eine ersehnte Rolle versprochen und dann doch nicht gegeben worden. Er hat das persönlich genommen – eine entscheidende Wende in seiner Biografie. Renneisen wird sein eigener Chef. Mit allen Risiken, die dazugehören. Elisabeth Renneisen übernimmt Ende der 1980er Jahre die Organisation und das Marketing der gemeinsamen Gastspielfirma. Sie ist diejenige, die plant, vorausschaut und managt.
In „Die Sternstunde des Josef Bieder“, das ebenfalls zum festen Repertoire gehört, spielt Renneisen einen Theaterbesessenen, der von einem Ausfall überrumpelt wird und eine Glanzvorstellung zeigt. Hier kann Walter Renneisen seine facettenreiche künstlerische Spannweite vielleicht am intensivsten ausleben. Eine Liebeserklärung an den Theaterbetrieb, die gleichzeitig eine kritische Diagnose ist. Auch der Künstler selbst hat sich seine vornehme Distanz zum Räderwerk des Kulturbetriebs stets bewahrt. Er genießt und schätzt die räumliche Nähe zu den kulturellen Hotspots in Darmstadt, Mannheim oder Frankfurt, ohne alles zu bejubeln, was er dort und anderswo zu sehen bekommt. Wenn es denn überhaupt etwas zu sehen gibt.
Die Pandemie hat Renneisen nachdenklicher gemacht. Er sorgt sich um die schönen Künste, die es nach dem Würgegriff des Virus` nun mit einem vorsichtigen und womöglich sogar partiell „entwöhnten“ Publikum zu tun haben. Vieles wird abgesagt, weil zu wenige Karten verkauft werden. Die Branche darbt. Doch Walter Renneisen hat sich ein Stück Zuversicht bewahrt – die kritische Ader ist ihm dabei nicht abhandengekommen. Über die zeitgenössischen Verfallserscheinungen der deutschen Sprache ärgert er sich auch auf der Bühne. Ein gewisses Maß an kommunikativer Hygiene gehört für den Künstler unbedingt dazu. Gerade jungen Menschen müsse man das früh vermitteln.
Dass er von einigen Kritikern und Zuschauern seines mittlerweile dreiteiligen Dauerprogramms „Deutschland, Deine Hessen“ als Sprachwissenschaftler bezeichnet wird, löst bei ihm eher ein Lächeln aus. Es gehe dabei vor allem um eine literarisch-humoristische Abhandlung der hessischen Dialekte, die er in einer als geistreiche Collage veredelten Sammlung an Fundstücke augenzwinkernd ins-zeniert. Eine satirisch-karikierende Verbaloffensive, bei der es nicht nur Hessen vor Lachen die Sprache verschlägt. So auch beim Jubiläumsabend im Parktheater, wo Renneisen von einer Jazzband flankiert wurde. Die Musik ist allgegenwärtig. Auch zuhause, wo von der Trompete bis zum Schlagzeug ein wahres Klang-Arsenal lagert.
Die Familie von früher ist weit verstreut. Renneisens Schwester ist nach England gegangen, wo sie bis heute lebt und wo sie eine Tochter geboren hat, die ebenfalls Schauspielerin geworden ist: Alex Kingston hat früher in der US-Serie „Emergency Room“ eine tragende Rolle gespielt, und auch der Onkel von der Bergstraße hat sie schon am Broadway erlebt – an der Seite des Shakespeare-Mimen Kenneth Brannagh. Alex Kingston war bis 1997 mit dem britischen Schauspieler Ralph Fiennes verheiratet zu dieser Zeit war das Paar oft zu Gast in Aurbach. In den 90er Jahren ist bei Sohn Mathias die Liebe zur Bühne erwacht, der mittlerweile in Berlin lebt und arbeitet.
Die vier Kinder kamen zwischen 1978 bis 1986 zur Welt. Renneisen wuppt Beruf und Familie. In dem 80er Jahren läuft es bestens, auch die TV-Rollen winken ihm regelmäßig zu: „Der Alte“, „Derrick“, „Ein Fall für zwei“, „Siska“ und „Tatort“ sind Serienrenner. Dann kommt das Gastspieltheater hinzu. Thespiskarren, fahrendes Volk. Die Wandervögel der Branche, mit denen er sich schon immer gut identifizieren konnte. Später unterstützt er den Ausbau eines Theaterraums am Bensheimer AKG und die im Parktheater regelmäßig stattfindenden Schultheatertage. Walter Renneisen bleibt ein Theaterarbeiter. Die One-Man-Show dauert an.