Darmstadt, Essen und Trinken

Im Gemüsehaus finden die Tafel-Kunden frisches Obst und Gemüse für ihren Einkauf. Die freundlichen, ehrenamtlichen Mitarbeiter, rund um die Leiterin Ursula Summer (2.v.re.), stehen ihnen dabei tatkräftig zur Seite. Foto: soe
29. Dezember 2015 

Satt machen mit Nachhaltigkeit und Nächstenliebe

Seit 20 Jahren hilft der Verein „Die Tafel Darmstadt“ die Ernährungssituation von Bedürftigen abzusichern

DARMSTADT, Dezember 2015 (pem), Ein Stück Brot konnte sich jeder abholen, der ebenso hungrig wie finanzschwach war. Man musste dazu der Garage von Doris Kappel einen Besuch abstatten. Die Darmstädterin hatte sich entschlossen, Bedürftige nicht über den Umweg von Spenden an wohltätige Organisationen zu unterstützen, sondern die Hilfe tatkräftig, konkret und direkt werden zu lassen. Ihr täglicher, couragierter Einsatz wurde angenommen. Mit ihrer Initiative war sie in eine Versorgungslücke gestoßen. Die mächtige Resonanz veranlasste sie, das Angebot zu erweitern und sorgte nun auch kostenlos täglich für eine warme Suppe.

Die Nachfrage überstieg bald ihre Kapazitäten und es kam 1995 zur Gründung des gemeinnützigen Vereins „Die Tafel Darmstadt e.V.“, der sich nur aus Spenden und Sponsorengeldern finanziert. Die Idee der privat organisierten Hilfe, d.h. der nicht von konfessionellen oder sozialen Institutionen geleisteten Unterstützung, stammte ursprünglich aus Amerika.

Bereits 1963 richtete John van Hengel in Phoenix eine erste Suppenküche ein. Das Besondere am Modell der „Tafeln“ ist die Verwendung kostenlos zur Verfügung gestellter Lebensmittelüberschüsse. Bundesweit arbeiten heute 900 „Tafeln“ nach diesem Prinzip und erreichen damit ca. eine Million Menschen, wobei er Anteil von Kindern und Jugendlichen erschreckend hoch bei einem Viertel liegt. Als Bezugsquellen dienen vornehmlich Supermärkte, größere Einzelhandelsbetriebe und Bäckereien.

Täglich machen sich die Fahrer des Vereins auf den Weg, um Ware einzusammeln, deren Mindesthaltbarkeitsgarantie in Kürze abläuft, deren Packung beschädigt ist oder deren Überbestände abgebaut werden sollen, sowie Obst und Gemüse, dessen Optik nicht mehr als zureichend für die verwöhnten Verbraucheransprüche gilt. All dies sind wertvolle Lebensmittel, die der Vernichtung zum Opfer fallen würden. Deshalb leisten die „Tafeln“ einen beachtlichen Beitrag zum nachhaltigen Wirtschaften.

Vor 16 Jahren gehörte Ursula Summer zu den „Pionieren“, die Doris Kappel bei ihrer selbstgewählten, erfüllenden Aufgabe zur Seite sprang. Aus der Hilfe beim Helfen wurde im Laufe der Zeit eine Festanstellung beim Verein, um die Führung der Einrichtung zu übernehmen. Die Wirtschaftsleiterin kümmert sich nicht nur um organisatorische Angelegenheiten und die unumgängliche Verwaltung.
Sie ist auch die Küchenchefin und hier kocht der Chef selbst! Mit der Kreativität einer „geübten Hausfrau, die gerne am Herd steht“, entwirft sie Essenspläne, die sich daran orientieren müssen, welche Lebensmittel zur Verfügung stehen. Frisch auf den Tisch kommt an fünf Tagen in der Woche das Menü: eine Suppe, ein Salat, ein Hauptgericht, Kaffee und Kuchen. Kostenpunkt: 1,- Euro! Gesunde Ernährung darf keine Frage des Geldbeutels sein. „Essen darf hier jeder“, betont Ursula Summer. „Ab und zu haben wir schon Gäste, bei denen man ziemlich sicher ist, dass sie sich etwas anderes leisten könnten, aber den größten Teil der Besucher machen Rentner aus. Die sind froh um die Versorgung, und genießen das Zusammentreffen mit anderen.“ Altersarmut, Alterseinsamkeit und die Auswirkungen vieler sozialer Missstände bei Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Migranten und Asylanten sind hier offenkundig. „Meine Idee von der Arbeit der Tafel war, Menschen die in finanzielle Not geraten sind, beim Überbrücken dieser Krise zur Seite zu stehen. Eine vorübergehende Unterstützung, die niemanden in Abhängigkeit bringt. Doch die Praxis zeigt, dass viele über einen sehr langen Zeitraum von dem Angebot Gebrauch machen und jahrelang Dauergäste bleiben.“

An diesem Punkt setzt die Kritik des „Tafel“-Modells an. Statt die Ursachen zu bekämpfen bediente man geradezu die soziale Schieflage auf dem derzeitigen Stand. Vielleicht sind dies aber einfach zwei verschiedene Aktionsfelder und für die engagierten Tafel-Aktivisten stellt es ein Gebot der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe dar, mit dem was momentane Lebenswirklichkeit ist, bestmöglich umzugehen. 58 Mitarbeiter in Minijobs oder beim Ableisten von Sozialstunden sind in der Bismarckstraße 100 in Darmstadt tätig. Ehrenamtliche wirken beim Verkauf mit, denn das zweite Standbein ist der Tafel-Laden. Die Regale werden ebenfalls durch die eingesammelten Produkte gefüllt, ein Kühlhaus steht zur Lagerung zur Verfügung, so dass Qualität gewährt ist. Um hier dreimal wöchentlich einkaufen zu können, benötigt man einen Nachweis der Bedürftigkeit. Zwiespältig bleibt das Gefühl, selbst bei den Mitarbeitern: Super, dass es diese Einrichtung gibt, traurig, dass es sie geben muss!