Bensheim, Gesundheit-Beauty-Wellness

„Der schönste Tag im Jahr ist der Heilige Abend, der meist ruhig und friedlich verläuft, so wie ich es gern habe.“ Auszug aus dem Text „Zimtenten, Kerzen und Sehnsüchte - Advent und Weihnachten aus der Sicht einer Autistin“ von Dr. Christine Preißmann. Foto: Shutterstock
15. Dezember 2020 

Was hat Weihnachten mit Autismus zu tun?

Informationen über ein schwer zu verstehendes Störungsbild

BENSHEIM, Dezember 2020 (awa), Manchmal kommen Eltern in meine Praxis und berichten, dass jemand über ihr Kind gesagt habe, es habe vielleicht Autismus. Der Grund: das Kind schaut manchmal ganz versunken vor sich hin und reagiert nicht, wenn es angesprochen wird. Oder: das Kind nimmt kaum Blickkontakt auf. Oder: das Kind interessiert sich für ganz spezielle Themen, wie z.B. für Dinos, oder Automarken, oder Landkarten.
Könnte das Autismus sein?

Dann antworte ich: das ist schwer zu sagen. Könnte, aber muss nicht. Zunächst muss ich Ihr Kind genauer kennen lernen. Meist bestätigt sich dieser von Personen aus dem Umfeld eines Kindes geäußerte Verdacht nicht. Dennoch empfehle ich in der Regel, wenn dieser Verdacht einmal geäußert wurde, dies in einem auf Autismus spezialisierten Zentrum genauer abklären zu lassen, damit das Vorliegen einer Autismusspektrumstörung ausgeschlossen werden kann. Das halte ich in erster Linie für wichtig, damit die Eltern diesen Verdacht „aus dem Kopf“ bekommen, weil sie sich sonst ständig bewusst oder unbewusst weiter damit beschäftigen und weil immer wieder Ängste geschürt und falsche Schlüsse gezogen werden.

Autismus ist ein Phänomen, das von leichter Beeinträchtigung bei durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz reicht bis hin zu Menschen, die schwerst geistig behindert sind und keine Sprachfähigkeiten entwickeln konnten; daher spricht man von „Autismus-Spektrum“. Die Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung wird mit ca. 1 % angegeben. Autismus ist biologisch-genetisch bedingt, also angeboren.
Falls tatsächlich durch ein spezialisiertes Zentrum eine Autismusspektrumstörung bestätigt wird, so ist dies immens wichtig für die Weichenstellung zur weiteren Entwicklung dieses Kindes. Denn: Kinder mit einer Autismusspektrumstörung brauchen im Alltag besonders viel Verständnis und Unterstützung, aus verschiedenen Gründen:

  1. Ein intuitives Erkennen von Gefühlen und Absichten anderer Menschen ist ihnen nicht so leicht möglich, da die sozial-interaktiven Kompetenzen eingeschränkt sind.
  2. Sie denken komplizierter als andere Menschen, sie gehen von anderen Voraussetzungen aus, sie ziehen andere Schlüsse aus ihren Wahrnehmungen. Da es aus ihrer Sicht normal ist, so zu denken – sie kennen es ja nicht anders – können sie in der Regel nicht benennen, was bei ihnen „anders“ ist. Sie verhalten sich einfach so, wie es ihnen angemessen erscheint. Ihr Verhalten ist aber für die Menschen in ihrer Umgebung oft nicht nachvollziehbar, man kann es jedoch nicht im Gespräch klären, und so gerät das Kind/er oder die Erwachsenen in Streit, in Eskalationen mit anderen Kindern und Erwachsenen, im Kindergarten, in der Schule, beim Sport, im Berufsleben usw.
  3. Die Wahrnehmung von Sinnesreizen (z.B. Hören, Sehen, Fühlen etc.) von außen, aber auch aus dem eigenen Körper, kann verändert sein im Sinne von Über- oder Unempfindlichkeiten. Ein Kind, das laute Geräusche oder grelles Licht oder Berührung nicht erträgt, dies aber nicht so benennen und daher nicht mitteilen kann, wird in entsprechenden Situationen gereizt oder gar wütend reagieren, und die Menschen in seiner Umgebung verstehen nicht den Grund für die Gereiztheit.
  4. Autistische Menschen verstehen Sprache in einem konkreten Sinn. Wenn z.B. das Navi im Auto sagt: „Halten Sie sich rechts!“, denken sie vielleicht, sie sollen sich rechts am Türgriff festhalten, und wundern sich darüber, sagen aber nichts. Oder: wenn jemand sagt: „Hier werden heute Abend die Bürgersteige hochgeklappt“, nehmen sie das vielleicht wörtlich und trauen sich abends nicht nach draußen, aus Angst, sie könnten von einem hochklappenden Bürgersteig erwischt werden o.ä. Dementsprechend ist es für autistische Personen auch schwieriger, Witze zu verstehen, da hier Inhalte aus dem gewöhnlichen Kontext gerissen werden und /oder in einem übertragenen Sinne verwendet werden.
  5. Der „Kontext“ wird von autistischen Personen oft nicht verstanden. Daher werden häufig mehrdeutige Wörter wie „Bank“ oder „Schlange“ bzw. Redensarten wie „etwas durch die Blume sagen“ nicht bzw. falsch verstanden.
  6. Durch das konkretistische Sprachverständnis fällt es autistischen Personen schwer, Smalltalk zu betreiben. Sie sind sehr ehrlich, sagen direkt, was sie denken, und können daher in Pausensituationen oder im Aufzug oder in der Warteschlange einem Gespräch über das Wetter nichts abgewinnen. Sie werden u.a. deswegen häufig als „Außenseiter“ oder „anders“ wahrgenommen.
  7. Autistische Menschen haben Schwierigkeiten im Umgang mit Veränderungen; daher bestehen sie auf gleich bleibenden Abläufen im Alltag. Nicht zuletzt dadurch sind ihre alltagspraktischen Fertigkeiten häufig deutlich eingeschränkt, so dass in der Regel keine altersadäquate Selbstständigkeit besteht.
  8. Menschen mit einer Autismusspektrumstörung haben oft ganz spezielle Interessen, Themen oder Tätigkeiten, mit denen sie sich bevorzugt beschäftigen. Hier finden Sie die Erläuterung zum Titel dieses Artikels:
    Eine Kollegin von mir, Frau Dr. Christine Preißmann, ist selbst von Asperger- Autismus betroffen. Sie geht sehr offen damit um, da sie anderen Menschen mit einer Autismusspektrumstörung helfen möchte, ihre Störung zu erkennen und in ihrem Leben besser zurecht zu kommen, außerdem geht es ihr darum, Stigmatisierung abzubauen. Neben ihrer Teilzeittätigkeit in einer Klinikambulanz für Erwachsene hier in der Region schreibt sie Bücher und hält Seminare und Vorträge zum Thema Autismus.
    Ein bevorzugtes Thema von Frau Dr. Preißmann ist das Thema „Weihnachten“. Sie hat die Weihnachtszeit nicht nur – wie alle Kinder – in ihrer Kindheit geliebt, sondern hat sich diese spezielle Vorliebe auch im Erwachsenenalter bewahrt. Doch lesen sie einfach, wie Frau Dr. Preißmann dies selbst beschreibt:

Im Folgenden lesen sie einen Auszug aus dem Text „Zimtenten, Kerzen und Sehnsüchte – Advent und Weihnachten aus der Sicht einer Autistin“ von Dr. Christine Preißmann (mit freundlicher Genehmigung der Autorin):
… Ungefähr um 17.00 Uhr beginnt unsere Weihnachtsfeier im Familienkreis, wobei ich Wert lege auf die exakte Uhrzeit, meine Eltern jedoch auf das Wort „ungefähr“. Dadurch kommt es erwartungsgemäß immer wieder einmal zu kleineren Auseinandersetzungen, wenn es trotz bestem Willen ein paar Minuten später wird als vorgesehen.
Am Abend findet dann die feierliche Christmette in der Kirche statt. Ich finde es manchmal schwierig, dass ich dort so viele Leute sehe, die ich von früher kenne. Sie kommen mit ihren Partnern in die Kirche, manche auch mit ihren Kindern. Dann realisiere ich erneut, dass alle Leute eine Familie zu haben scheinen, und fühle mich als Außenseiter. Ich versuche, mich durch die schönen Lieder und die Lichter, die Krippe und den Weihnachtsbaum abzulenken, was mir auch ganz gut gelingt. Aber dennoch ist es an diesem Tag besonders schwierig für mich. All die schönen Dinge, die gemeinsamen Erlebnisse mit meinen Eltern an Weihnachten werde ich nie mit einem eigenen Kind teilen können.

Mein Interesse für die Weihnachtszeit beschränkt sich nicht auf die Wochen rund um das Fest, sondern spielt für mich das ganze Jahr über eine Rolle. Früher hielt ich mich daran, wenn man mir sagte, ich könne meine geliebten Weihnachtslieder nicht im Sommer hören, das passe nicht. Aber inzwischen weiß ich, dass merkwürdig erscheinende Eigenarten als Facetten der menschlichen Vielfalt manchmal auch durchaus akzeptiert werden können. So vieles passt nicht, aber in diesem Fall ist mir das inzwischen ziemlich egal. Es tut mir gut und entspannt mich, ohne Rücksicht auf die Jahreszeit nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Nachhauseweg die schöne Musik anzuhören. Schließlich störe und gefährde ich dadurch niemanden. Aber ich habe doch mittlerweile gelernt, dass es sinnvoller ist, außerhalb der Weihnachtszeit an einer roten Ampel möglichst das Fenster zu schließen, während ich bei „Stille Nacht“ laut mitsinge, damit die Leute nicht unnötig blöd schauen.“ …

Dieser Text zeigt Beispiel gebend unglaublich ehrlich, offen und auch anrührend die schwierigen Besonderheiten, die ein von Autismus betroffener Mensch im Leben meistern muss. Der überwiegend größte Teil autistischer Menschen kann übrigens nicht einer adäquaten, geregelten Arbeitstätigkeit nachgehen, da es im Alltag aufgrund von Missverständnissen sehr oft Konflikte gibt, die immer wieder zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen führen. Die immer wieder erlittenen Niederlagen und persönlichen Misserfolge führen zu unglaublichem persönlichem Leid, das gelindert werden kann, wenn autistischen Menschen mehr Verständnis entgegen gebracht wird und wenn sie Hilfe bekommen, den für sie passenden und angemessenen Arbeitsplatz zu finden.
Dazu ist es wichtig, Autismusspektrumstörungen möglichst frühzeitig bei betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu diagnostizieren, damit passende, maßgeschneiderte Hilfemöglichkeiten gesucht und gefunden werden können.

Frau Dr. Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie und wird ab Frühjahr 2021 in der Region eine psychotherapeutische Praxis für Erwachsene betreiben.
Hier finden Sie Titel von Frau Dr. Preißmanns neuesten Publikationen für Betroffene, Fachleute und alle Interessierten:

  • Mit Autismus leben – Eine Ermutigung. Verlag Klett-Cotta 2020.
  • Menschen mit Autismus und die Corona-Pandemie. Books on Demand 2020.

Ich wünsche Ihnen – trotz Corona – eine wunderschöne Advents- und Weihnachtszeit!

Dr. med. Andreas Wacker
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und –psychotherapie – Homöopathie –
Nibelungenstr. 26, 64625 Bensheim
Tel. 06251 – 66478, Fax – 66278
www.praxis-wacker.de