Bickenbach

Seinen ersten Tag der offenen Tür, zu dem alle Interessierten herzlich eingeladen waren, veranstaltete das Kinderkonsulat Bickenbach. Foto: soe
21. Juni 2023 

Zweite Heimat abseits von Zuhause

Bickenbacher Kinderkonsulat lud zum Tag der offenen Tür ein

BICKENBACH, Juni 2023 (tt), In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen steht es in Artikel 16 schwarz auf weiß: jedes Kind hat ein Recht auf Privatsphäre. Das gilt für sein Privatleben, seine Familie und für seine Wohnung. Beim Tag der offenen Tür im Bickenbacher Kinderkonsulat war dieser Bereich daher tabu. Und auch die Kinder waren „ausgeflogen“: im Zoo und am Erlensee. Keine Flucht, sondern ein geplanter Akt der Wertschätzung. Das Haus versteht sich als Schutzraum. Auch vor zu viel Öffentlichkeit. Eine Insel der Freiheit und Geborgenheit für junge Menschen in besonderen Lebenssituationen. Pädagogische Fachkräfte betreuen insgesamt acht Kinder, die aus problematischen Familienverhältnissen stammen. In der Einrichtung leben sie auf eine bestimmte Zeit mit anderen Kindern in einer Wohngruppe zusammen. So lange, bis sie in ihre Familie zurückgehen können oder eine andere, individuell gute Lösung gefunden ist. Eine Jugendarbeit, die grundsätzlich auf die Familienkonstellation Rücksicht nimmt und darauf wirkt, diese positiv zu verändern. Mit diesem Anspruch arbeitet die Einrichtung eng mit den Herkunftsfamilien zusammen. Das Ziel besteht in einer Veränderung der Verhaltensmuster von Kindern wie Eltern.

Das Haus am westlichen Ende der Bahnhofstraße hat wahrlich etwas von einem Konsulat: es ist eine Art Nothilfe für Menschen auf fremdem Terrain, eine vorübergehende Heimat abseits des persönlichen Zuhauses auf einer vielleicht noch unbestimmten Reise. Ein Zufluchtsort für Kinder, die aus Familien herausgenommen werden oder aus Familien kommen, die sich freiwillig für eine Unterbringung über das Jugendamt entscheiden. Hier finden sie Halt, Gehör und Gemeinschaft. Die „Diplomaten“ des Hauses vertreten die Interessen der Kinder.
„Wir interessieren uns zuerst für den Menschen und die Situation. Und wir wollen verstehen, warum diese so ist und wie man sie verbessern kann“, sagt Roland Wiebe. Jahrgang 1977, verheiratet, drei Kinder. Er begleitet junge Leute bei Verfahren vor einem Familiengericht. Ein Anwalt der Kinder. Auch bei Fragen der Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Und weil Wiebe weiß, wie kalt und anonym es in vielen dieser Häuser aussieht, hat der Diplom-Pädagoge 2011 die gemeinnützige Kaleidoskop GmbH gegründet. Ihr Sitz ist Darmstadt, der Geschäftsführer lebt in Bensheim.

Genau dazwischen – in Bickenbach – hat die Gesellschaft als Träger der freien Jugendhilfe vor drei Jahren das Kinderkonsulat eröffnet. Ein Wohngebäude mitten in der Gemeinde. Hell und freundlich, behaglich und warm. Mit offenen Treffpunkten und Gemeinschaftsräumen, aber auch mit Rückzugsorten und Nischen, in denen Kinder die ungestörte Ruhe finden, die sie regelmäßig brauchen. Für das große Team aus 18 Sozialarbeitern, Erzieherinnen, Pädagogen, Aushilfen, Azubis und Ehrenamtlern sind die jungen Bewohner in erster Linie Spezialisten in eigener Sache, die ihren Gefühlen über ihr Verhalten Ausdruck verleihen.

Markus Wiebe ist überzeugt: Zufälle gibt es nicht. Hinter jeder Aktion und Reaktion steckt ein Motiv. „Wir gehen davon aus, dass Kinder sich aus einem bestimmten Grund so verhalten, wie wir es wahrnehmen können.“ Das Kinderkonsulat möchte genau dies herausfinden und darauf aufbauen. Die Grundannahme: Jedes Kind ist ein Profi für seine spezifische Situation. Und dann gibt es da noch die Experten vom Jugendamt, das die Einrichtung beauftragt. In enger Zusammenarbeit untersucht man die Funktionsweise der jeweiligen Familie, erkennt bestenfalls auffällige Verhaltensmuster und unterstützt alle Beteiligten darin, neue Perspektiven zu entwickeln. Ein ganzheitlicher Ansatz, der den Menschen in seiner Vollständigkeit mit allen einflussreichen Aspekten in seinem Umfeld ins Zentrum rückt. Normalerweise werden solche Wohngruppen „Hilfe zur Erziehung“ genannt. Doch in Bickenbach bewegt man sich weder pädagogisch noch sprachlich im staubigen Bürokratendeutsch. Ein Konsulat agiert im Interesse seiner mündigen Bürger. Eine staatliche Kinder- und Jugendhilfe riecht nach Sozialgesetzbuch, Paragrafen und Heimunterbringung. Letztlich das gleiche Terrain, doch das Vokabular ist ein anderes. Auch Sprache kann einen Unterschied machen.

Unter den Gästen beim Tag der offenen Tür war auch Bürgermeister Markus Hennemann. Ein solches kleinräumiges Konzept mit familiären Strukturen habe er anderswo noch nie erlebt, sagt er. Der Standort mitten in der Gemeinde sei ideal. Ein solches Haus gehöre ins Zentrum. Auch politisch sei der Standort im Vorfeld niemals ein Problem gewesen. Mit der Nachbarschaft gebe es keine Probleme. Im Gegenteil. Die Mitarbeiter bestätigen dies.

Manche Kinder sind ein paar Monate hier, andere einige Jahre. Sie sind von sechs bis 14 Jahre alt. Mit dem Beginn der Pubertät greifen in der Regel andere Optionen, so Roland Wiebe. Meistens geben die Eltern ihre Zustimmung, dass die Kinder dort wohnen dürfen. Manchmal begleitet das Team aber auch Kinder, die nicht nach Hause zurückkehren können – oder dürfen. Der Anlass ist immer ein trauriger. Viele der Kinder sind verhaltensauffällig, eine Pflegefamilie sei daher oftmals nicht der richtige Kurs, so der Pädagoge, der die Lage des Kinderkonsulats als ideal kommentiert. Bis zum Bahnhof sind es nur wenige Schritte – das ermöglicht auch den Eltern kurze Wege zu ihren Kindern. Diese Kontakte sind elementar. Denn die Dynamik in der gegenseitigen und wechselseitigen Beziehung führt zu Veränderung. Und wenn sich eine Seite bewegt, bleibt meistens auch die andere nicht in einer starren Position. Das ist eine der pädagogischen Grundthesen des Hauses, das seit seiner Eröffnung bereits über ein Dutzend Kinder begleitet hat.

Es war ein Start mitten in der Pandemie. Im Sommer 2020. Vieles wurde in Eigenregie geschultert. Vor allem der Innenausbau. Die Zimmer sind sehr individuell eingerichtet, im Aufenthaltsbereich steht ein riesiger massiver Holztisch – eher eine Tafel. Die Spende eines Schreiners. Der Stahlunterbau besteht aus einem geschweißten „K“. Zwei „K“ sind die Initialen des Kinderkonsulats, die einem in dem weißen Gebäude immer wieder begegnen. Auch auf den Shirts des Teams. Man identifiziert sich mit dem Haus und dem pädagogischen Konzept, das hier auf rund 250 Quadratmetern Fläche gelebt wird. Das gesamte Areal ist etwa 700 Quadratmeter groß. Es gibt zwei Gärten, hinter dem Haus soll demnächst unter Mitwirkung der Bewohner eine Hütte entstehen. Etwas, das bleibt – auch wenn die Kinder wieder ausgezogen sind.

Auch diese neue Nische wird auf den Fundamenten von Artikel 16 der UN-Kinderrechtskonvention gebaut: ein Rückzugsort im Freien. Fast eine kleine Außenstelle des einzigartigen Bickenbacher Konsulats. Nach einem Wunsch gefragt, antwortet Roland Wiebe reaktionsschnell: das gleiche Konzept für ältere Jugendliche. Noch eine Vision. Aber das war die heutige Einrichtung einst ebenfalls.